Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
sechs Uhr in Deutschland. Ein Vollzugsbediensteter schließt Ihre Zellentür auf und begrüßt Sie mit einem deutlich hörbaren »Guten Morgen«. Sie müssen darauf entweder etwas erwidern oder sich zumindest sichtbar bewegen, damit der Bedienstete sieht, dass Sie sich in Ihrer Zelle befinden und am Leben sind. Dies ist die allmorgendliche sogenannte »Lebendkontrolle«.
In der Zeit bis sieben Uhr dürfen Sie sich waschen, anziehen,Ihre Post entgegennehmen und frühstücken. Die Chance ist groß, dass Sie in einem der vielen Gefängnisse sitzen, in denen Ihnen das Frühstück bereits am Abend zuvor in die Zelle gereicht wurde.
Zwischen sieben und zwölf Uhr arbeiten Sie in einem der gefängnisinternen Arbeitsbetriebe. Dann haben Sie eine Stunde Mittagspause. Sollten Sie Kantinenessen bisher nicht gemocht haben: Nun werden Sie sich für lange Zeit daran gewöhnen. Die Arbeit geht zwischen 13 und 16 Uhr weiter.
Nach der Arbeit dürfen Sie sich beim Hofgang erholen, der einzigen Stunde am Tag, die Sie an der frischen Luft verbringen. Die Aussicht ist vielleicht über die Jahre etwas eintönig: Betonboden, Rasen, Betonmauern. Aber Sie können immerhin die Sonne sehen und mit Mitgefangenen reden, während Sie über den Hof spazieren. Je nach den Möglichkeiten in Ihrem Gefängnis haben Sie vielleicht sogar die Gelegenheit, manchmal Basketball, Fußball oder Badminton zu spielen.
Um 17 Uhr geht’s vom Hofgang zum Abendessen. Danach haben Sie etwa dreieinhalb Stunden zu Ihrer freien Gestaltung. Sie können in Ihrer Zelle fernsehen, lesen, Musik hören oder Briefe schreiben. Wahrscheinlich werden Sie früher oder später das Bedürfnis entwickeln, mit einem anderen Menschen unter vier Augen über persönliche Dinge zu sprechen. Dafür dürfen Sie während Ihrer freien Zeit um einen »Umschluss« bitten. Das bedeutet, Sie möchten in die Zelle eines anderen Gefangenen, mit dem Sie befreundet sind, eingeschlossen werden. Alternativ können Sie auch an einer Sport- oder anderen Freizeitgruppe teilnehmen.
Um 21 Uhr werden Sie für die Nacht auf Ihrer Zelle eingeschlossen. Falls es eine Einzelzelle ist, sind Sie in den nächsten neun Stunden mit sich allein. Bis am nächsten Tag alles wieder von vorne losgeht.
Fehlannahme 5:
Straftätertherapie ist nichts anderes als eine sinnlose Verhätschelung der Täter.
Wenn es einen anderen Weg zu gehen gibt,
hab ich ihn vor zwanzig langen Jahren verpasst.
Mein Leben war ein Krieg,
den ich nie gewinnen konnte.
Ich hatte angefangen die Welt zu hassen,
diese Welt, die mich schon immer gehasst hat.
(Jean Valjean in »Les Miserables«
– nach dem Roman von Victor Hugo)
Wenn schwere Straftäter eine Therapie machen, müssen sie sich lange und intensiv mit den schlimmsten Situationen ihres Lebens, mit ihren Schwächen und Fehlern auseinandersetzen – zunächst in Einzelsitzungen mit ihrem Therapeuten, später in Gruppensitzungen vor Mitgefangenen.
Sie legen nach und nach alles über sich und ihr Leben offen, was sie immer versteckt haben und selbst am liebsten vergessen wollten. Dabei werden sie weder von ihren Therapeuten noch von den Mitgefangenen in der Gruppe mit Samthandschuhen angefasst. Die Themen, um die es während der Therapie geht, sind ebenso heftig wie ihre ungeschönte Aufarbeitung. Da wird nicht mit blumigen Worten um den heißen Brei herumgeredet. Unangenehme Dinge werden beim Namen genannt, manchmal in einer Deutlichkeit, die ich hier nicht wiedergeben möchte.
Sich den eigenen Dämonen stellen
Nimm ein Auge für ein Auge.
Verwandle dein Herz in Stein.
Das ist alles, wofür ich lebte.
Das ist alles, was ich kannte.
Ich verliere jeden Halt.
Nacht bricht über mich herein.
Während ich in die Leere starre,
in den Strudel meiner Schuld.
(Jean Valjean in »Les Miserables«
– nach dem Roman von Victor Hugo)
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein nicht einmal schwerer Straftäter und müssten Woche für Woche vor einer Gruppe Ihre tiefsten Geheimnisse offenbaren. Alles, wofür Sie sich zu Tode schämen, alles, was Sie furchtbar traurig macht, alles, was Ihnen wirklich Angst macht.
Ich erlebe in der Sozialtherapeutischen Anstalt immer wieder, wie Täter vor der Therapiegruppe von ihren Gefühlen überwältigt werden. Wir reden hier von gestandenen Männern, die versuchen, im Knast klarzukommen, indem sie möglichst hart tun. Ein Mann, der seine Partnerin während eines heftigen Streits ungewollt getötet hatte, berichtete von seinem Haftaufenthalt vor der
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