Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
nicht einfach war. Deshalb seien sie auch froh darüber, dass sie in der Sozialtherapie lernten, mit sich, ihren Problemen und schwierigen Lebenssituationen anders umzugehen als früher und das Beste aus dem zu machen, was noch möglich sei.
Eine Begegnung zwischen den Welten
Ein schmächtiger, zurückhaltender Gefangener Ende fünfzig bot an, mir seine Zelle zu zeigen. Das Angebot nahm ich dankend an. Wenn man eine solche kleine Zelle nie persönlich gesehen hat, kann man sich nicht vorstellen, wie es sein muss, darin auf Jahre eingesperrt zu sein.
Während ich mich vor seiner Zelle mit ihm unterhielt, erzählte der Gefangene mir, er habe vor dreißig Jahren mehrere Frauen brutal vergewaltigt. Ja, das könne man sich kaum vorstellen, wenn man ihn jetzt – dünn und körperlich vorzeitig gealtert – so sehe. Ich reagierte nicht erschrocken oder entsetzt, sondern fragte ihn, warum er das getan hatte. So erzählte er mir von seinem Leben, welche psychischen Probleme er nach einer – nicht überraschend – schwierigen Kindheit entwickelt hatte. Damals, als junger Mann, hatte er überhaupt nicht begriffen, was mit ihm los war. Die Taten beging er immer wieder spontan. Seine Geschichte ist sehr typisch. Viele solche Täter wissen vor einer Therapie nicht, warum sie irgendwie »kaputt« sind und warum sie solche Dinge tun.
Weil er ein gefährlicher Wiederholungstäter war, sei er in »Sicherungsverwahrung« gekommen, erzählte er. Ob er je wieder in Freiheit kommen würde, wusste er nicht. Er sei inzwischen – nach einer langen Therapie – für niemanden mehr gefährlich, da sei er sich sicher. Das konnte er auch sehr vernünftig begründen. Trotzdem verstand er, warum er in Sicherungsverwahrung gekommen war und warum Gutachter immer wieder sehr genau prüfen mussten, wie er sich über die Jahre entwickelt hatte. Es sei auch richtig gewesen, andere Menschen auf diese Art vor ihm zu schützen. Das verstehe er. Er fühlte sich in keiner Weise ungerecht behandelt.
Nun wurde er langsam ein alter Mann. Sein einziger Wunsch war es, irgendwann noch die letzten Jahre seines Lebens in Freiheit verbringen zu dürfen. Ich fragte ihn, was er gerne noch erleben würde. Er sagte: »Ich fände es einfach sehr schön, wenn ich irgendwann an einem sonnigen Tag spazieren gehen könnte und mir ab und zu einen Film im Kino ansehen.« Die vielen Jahre in Haft (immerhin die Hälfte seines Lebens) hätten ihn sehr verändert. Er war sehr froh über die Möglichkeit einer langen Therapie. Dabei habe er erst langsam gelernt zu verstehen, was mit ihm los sei und warum. Er sei sehr unglücklich gewesen in seinem Leben vor der Haft. Inzwischen komme er sehr viel besser mit sich selbst klar. Er habe gelernt, auch für kleine positive Dinge im Haftalltag dankbar zu sein.
Von sich aus sprach er auch über seine starken Schuldgefühle. Mit denen würde er bis zu seinem Tod leben müssen. Deshalb sei er auch nicht verbittert über die dreißig Jahre, die er bisher in Haft gesessen habe. Es sei richtig gewesen, andere Menschen vor ihm zu schützen, und es sei richtig gewesen, ihn hart zu bestrafen. Er sagte, auch die Frauen, die er vergewaltigt hatte, müssten für den Rest ihres Lebens mit dem Grauen leben, das er ihnen angetan hatte. Diese Erkenntnis habe er erst während der Therapie emotional an sich herangelassen. Es sei hart zu begreifen, dass er dies niemals ändern könne, egal wie sehr er sich selbst verändert habe. Als er davon sprach, war er sichtlich betroffen. Mit dieser Schuld zu leben, wenn man sie wirklich begreife, daran könne man sich nie gewöhnen, die werde man immer mit sich tragen.
Er wisse genau, wer er damals als junger Mann war, und es sei gut, dass er so werden konnte, wie er jetzt ist. In der Sozialtherapeutischen Anstalt zu landen, sei das Beste gewesen, was ihm passieren konnte. Dies habe ich später auch von anderen Gefangenen gehört, meist in der »Abschlusssitzung« vor ihrer Entlassung, wenn sie sich von ihrer Gruppe und ihren Therapeuten offiziell verabschiedeten. Wenn man Gefangene jahrelang in der Therapie erlebt hat, dann kennt man ihre Reaktionen und ihre Körpersprache sehr gut. Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn Gefangene bei ihrem Abschied in der Gruppe so offensichtlich bewegt sind.
Der ältere Mann sagte, er sei sehr froh darüber, dass einige Menschen freiwillig und aus persönlicher Überzeugung mit Tätern wie ihm arbeiten. Ich sei ja außerdem noch sehr jung. Es beeindruckte ihn, dass ich
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