Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
fragte, wie es ihm gehe. Er erzählte zu meiner Freude, wohin er gezogen sei, dass er Arbeit gefunden habe und zur Zeit alles gut laufe.
Mit denen arbeiten, die von der Welt aufgegeben wurden
Warum habe ich diesem Mensch erlaubt,
meine Seele zu berühren und mir Mitgefühl beizubringen?
Er behandelte mich wie einen normalen Menschen,
er glaubte an mich.
(Jean Valjean in »Les Miserables«
– nach dem Roman von Victor Hugo)
Ich habe öfter erlebt, dass Straftäter, die in der Sozialtherapeutischen Anstalt behandelt werden, sehr dankbar dafür sind, dass überhaupt jemand mit ihnen arbeitet und sie menschlich behandelt. Sie wissen sehr genau, wie die Leute draußen sie sehen. Nicht wenige wurden von Freunden und Familie wegen ihrer Tat verstoßen. Ihnen ist klar, dass viele Menschen ihnen nur das Schlimmste wünschen, sie für Monster halten und glauben, sie könnten sich nicht verändern. Gerade deshalb wissen sie sehr zu schätzen, dass es Therapeuten, Sozialarbeiter und Vollzugsbedienstete gibt, die sie als Menschen sehen und mit ihnen entsprechend umgehen.
Als ich eine junge Studentin war und mein Praktikum in der Sozialtherapeutischen Anstalt machte, wollte ich einmal den Knastalltag erleben, nachdem die normale Arbeitszeit der Psychologen (um 17 Uhr) zu Ende war. Ein sehr freundlicher, engagierter Vollzugsbediensteter setzte sich in dieser Sache für mich ein. Er übernahm die persönliche Verantwortung für meine Sicherheit während dieser Zeit, sodass mir erlaubt wurde, ihn einen Nachmittag und einen Abend lang bei seinem Dienst zu begleiten.
Er war bei vielen Gefangenen beliebt, gestaltete Freizeitangebote für sie mit, setzte sich für sie ein, behandelte sie freundlich. Als er, gerade 42-jährig, an einer schweren Krankheit starb, waren auch viele Gefangene traurig; er fehlte, das spürte jeder. Den überaus interessanten Einblick in den Knastalltag der Gefangenen – zwischen Arbeitsschluss und Einschluss auf ihren Zellen – hätte ich ohne ihn so niemals bekommen. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.
An diesem Nachmittag und Abend sprach ich mit verschiedenen Gefangenen, die auf ihrer Abteilung gemeinsame Freizeit verbringen durften. In diesen Stunden dürfen in einer Sozialtherapeutischen Einrichtung alle Gefangenen auf dem langen Gefängnisflur zwischen ihren dann aufgeschlossenen Gefängniszellen miteinander ihre Zeit gestalten. Viele spielen Karten, Gesellschaftsspiele oder Kicker. Dass dieser »Luxus«, den Inhaftierte in anderen Gefängnissen so nicht haben, in einer Sozialtherapeutischen Anstalt möglich ist, hat einen Grund: Die Insassen sollen lernen, mit anderen Menschen klarzukommen, Probleme gemeinsam und vernünftig zu lösen, einen »normalen« Alltag mit ihnen zu gestalten. Es ist also ein Teil des Therapieprogramms.
Viele Gefangene fanden es interessant, mich als Praktikantin im Psychologiestudium zu erleben. Sie verhielten sich freundlich, manche eher schüchtern, manche ganz interessiert, sich mit mir zu unterhalten. Irgendwann saß ich an einem Tisch mit mehreren Gefangenen zusammen, die überrascht waren, dass die psychologische Praktikantin in dieser Zeit da ist. Ich sagte, dass mich das Leben der Gefangenen außerhalb ihrer Therapiesitzungen interessierte – der Teil ihres Alltags, den Psychologen sonst nicht mitbekommen.
Die Gefangenen reagierten sehr positiv. Einige erzählten mir, warum und wie lange sie schon inhaftiert waren. Wie ihr Leben bisher gelaufen war und wie es für sie sei, nun in der Sozialtherapie zu sein. Vor allem jene, die schon länger in der Sozialtherapeutischen Anstalt waren, sprachen recht offen über ihr Leben. Ich wollte wissen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten. Es war für mich faszinierend zu erleben, dass ihr größter Traum der war, einfach irgendwann noch einige Jahre ein »normales« Leben draußen führen zu können. Und mit »können« ist nicht nur die Möglichkeit gemeint, das Gefängnis verlassen zu dürfen.
Sie äußerten klare Vorstellungen, was sie in den Jahren draußen alles anders würden machen müssen als in der Vergangenheit. Dass alles nicht einfach sein würde. Eine Arbeit zu finden, eine Wohnung irgendwo. Freundschaften aufzubauen. Damit umzugehen, wenn jemand von ihrer Vergangenheit erfährt. Keiner stellte sich vor: »Ich muss nur rauskommen, dann geht’s mir gut und ich kann machen, was ich will.« Ganz im Gegenteil, alle sagten, dass es nicht einfach sein werde, besonders da ihr Leben auch vorher schon
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