Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
noch perfideres Gedankenexperiment entwickelte der Philosoph Peter Singer. Ich möchte mit Ihnen eine kleine Weiterentwicklung dieses Experimentes durchführen. Denken Sie bitte über folgende Situation nach, in der es nicht darum geht, auf den Tod eines anderen Menschen Einfluss zu nehmen, sondern »nur« darum, ein Leben zu retten:
Sie haben sich vor wenigen Tagen ein paar schicke italienische Schuhe aus Leder für eine Feier gekauft, die Ihnen sehr viel bedeutet. Die Schuhe haben fünfhundert Euro gekostet. So eine Investition tätigen Sie natürlich nur einmal im Leben, aber Sie wollen die Schuhe ja auch ausschließlich zu besonderen Anlässen tragen. Zu Fuß machen Sie sich auf den Weg zu der Feier. Die Sonne scheint und Sie kommen durch einen kleinen Wald, in dem ein See liegt. Plötzlich hören Sie Kinderschreie. Als Sie in die Richtung schauen, aus der die Schreie kommen, sehen Sie im See – nicht allzu weit entfernt – einen etwa sechsjährigen Jungen. Er schreit panisch und schlägt mit den Armen um sich. Offenbar ist er alleine in den See geschwommen und hat einen Krampf im Bein. Sie schauen sich hektisch um, aber weit und breit ist niemand außer Ihnen und dem Jungen. Ihnen wird klar, dass das Leben des Jungen in Gefahr ist und er jeden Moment ganz unterzugehen droht. Wieder haben Sie keine Zeit, um lange nachzudenken und auch nicht, um Ihre fest geschnürten neuen Lederschuhe auszuziehen. Was tun Sie?
Viele Menschen antworten hier, dass sie sofort in den See springen würden, um den Jungen zu retten, auch wenn ihre teuren Schuhe danach unwiderruflich hinüber wären. Ihr Gefühl für Richtig und Falsch fällt die Entscheidung. Das Leben des Kindes ist wertvoller als die teuren Schuhe. Umgekehrt gesagt: Sie könnten sich an den schönen Schuhen nicht mehr erfreuen, wenn sie wegen dieser das Kind sterben lassen. Dann würde sie für immer ihr schlechtes Gewissen verfolgen.
So weit, so »menschlich«. Was tun Sie aber in folgender Situation:
Sie öffnen eines Morgens die Post und finden einen Brief von einer Hilfsorganisation, die offiziell von der Bundesregierung unterstützt wird. Darin sind Bilder verhungernder Kinder in einem Dritte-Welt-Land zu sehen und umfangreiche Informationen dazu, was die Organisation bezweckt: Sie kümmert sich um die Versorgung von unterernährten Kindern in speziellen Einrichtungen. Die dort aufgenommenen Kinder würden zweifellos sterben, wenn sie diese Hilfe nicht bekämen. In dem Brief werden Sie gebeten, einmalig dreißig Euro zu spenden. Mit diesem Betrag könnte ein Kind mehrere Wochen versorgt werden und würde somit vor dem Hungertod bewahrt. Dem Inhalt des Briefes mit Verweis auf eine Internetseite können Sie entnehmen, dass es sich um keine zwielichtige Organisation handelt. Ihnen wird die Garantie gegeben, dass Ihre Spende ausschließlich für Nahrung in der konkret benannten Einrichtung verwendet werden wird. Die Bundesregierung persönlich bürgt dafür, dass dies streng überwacht wird. Was tun Sie?
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie, wie die überwiegende Mehrzahl, irgendeine Ausrede erfinden, um nicht zu spenden. Vielleicht sagen Sie sich: Die Bundesregierung gibt doch Geld für so viel Quatsch aus, sollen die doch einen Betrag zur Verfügung stellen, ich bezahle schließlich Steuern. Oder Sie sagen sich: Andere verdienen viel mehr als ich, die sind doch viel eher verpflichtet, da zu spenden. Ausreden gibt es viele. Tatsache ist: Weil Sie sich in Ihre Ausrede flüchten und die Verantwortung »wegschieben«, werden in der Einrichtung dreißig Euro weniger ankommen, sodass ein Kind weniger gerettet werden kann und sterben wird.
Fühlen Sie sich deshalb schuldig?
Ich denke, eher nicht.
Der Sachverhalt ist in beiden Fällen derselbe: Wenn Sie Ihr Geld lieber für sich selbst verwenden, stirbt ein Kind mehr auf der Welt, weil Sie nichts getan haben. Im zweiten Fall ist die Summe, die Sie einsparen, fast lächerlich. Trotzdem werden Sie zugeben: Sehr wahrscheinlich spenden Sie nicht. Der einzige wahre Grund dafür, der nicht eine »Ausrede« – psychologisch gesprochen eine »Rationalisierung« – ist, ist der:
Im ersten Fall sind die »Kosten« Ihres schlechten Gewissens höher als die »Kosten«, fünfhundert Euro Ihres Geldes zu verlieren. Im zweiten Fall meldet sich Ihr schlechtes Gewissen erst gar nicht, es erzeugt Ihnen also keine »Kosten«. Dreißig Euro Ihres Geldes zu spenden, erzeugt aber »Kosten«, fühlt sich also nicht gut an. Ihr
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