Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
ist, einen Menschen zu opfern, um fünf zu retten. Sie würden also die sachlich betrachtet bessere Entscheidung treffen, nämlich die, bei der der Schaden am kleinsten ist. Ein schlechtes Gewissen belastet sie, egal was sie tun, auf keinen Fall.
Wer ist nun »gut« und wer ist »böse«? Ist der vernünftig entscheidende Psychopath »gut«, weil er in beiden Fällen das tut, was den »Gesamtschaden« am kleinsten hält? Ist der normal fühlende Mensch – also wahrscheinlich auch Sie – »böse«, weil er, nur um sein Schuldgefühl möglichst gering zu halten, entscheidet, nicht einzugreifen? Seine Entscheidung auf der Brücke bedeutet immerhin, dass mehr Menschen sterben, als notwendig gewesen wäre.
Vielleicht haben Sie wie die meisten Menschen bisher geglaubt, dass ihr Empfinden für »gut« und »böse« auf vernünftigen Einsichten beruht. Einem anderen Menschen zu schaden ist böse, weil Sie auch nicht wollen würden, dass Ihnen ein anderer schadet. Aber das Gedankenexperiment eben hat gezeigt, dass Ihr Gewissen nicht immer »vernünftig« ist. Es gibt keinen sachlichen, vernünftigen Grund dafür, warum Sie auf der Brücke anders entscheiden würden als beim Umstellen der Weiche. Der Grund dafür, dass die meisten normalen Menschen den Mann nicht von der Brücke stoßen würden, liegt in ihrem unwillkürlichen Gefühl. Dieses Gefühl wird nicht durch Vernunft gesteuert. Wodurch also dann?
Um das herauszufinden, führten der Psychologe Joshua Greene und später auch die Psychologin Andrea L. Glenn beide das eben geschilderte Gedankenexperiment mit Menschen durch, während diese in einem Kernspintomographen lagen. Das ist ein medizinisches Gerät in Form einer großen Röhre. Liegt ein Mensch darin, kann der Wissenschaftler auf einem Bildschirm sehen, welche Bereiche seines Gehirns er gerade benutzt und welche nicht. Auf diese Weise wurden die Gehirne von normal fühlenden Menschen mit denen psychopathischer Menschen verglichen, während sie über das Gedankenexperiment nachdachten.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen erklärten, warum das Gewissen normaler Menschen nicht immer die vernünftigste Entscheidung trifft. Im ersten Teil des Versuchs lief in den Gehirnen von Psychopathen und normalen Menschen noch dasselbe ab. Während sie über die Entscheidung nachdachten, nutzten beide die Teile ihres Gehirns, die für vernünftige Entscheidungen und das Lösen von Problemen zuständig sind. Diese Gehirnteile wiegen Kosten und Nutzen einer Entscheidung ab. Fünf tote Menschen sind mehr »Kosten« als ein toter Mensch. Der Aufwand, eine Weiche umzustellen, ist wiederum gering. Damit ist die Entscheidung einfach: Einen Menschen opfern, um fünf zu retten, ist die beste Lösung.
Im zweiten Teil des Versuchs taten die Gehirne von Psychopathen aber etwas anderes als die der normalen Menschen. Psychopathen »benutzten« bei der Entscheidung auf der Brücke genau dieselben sachlichen, lösungsorientierten Gehirnteile wie bei der Entscheidung mit der Weichenumstellung. Das bedeutet, ihr Gehirn suchte die vernünftigste Lösung und entschied wieder, dass fünf tote Menschen schlechter sind als ein toter Mensch. Damit war für das psychopathische Gehirn klar, dass in diesem Fall einen Mann von der Brücke zu stoßen eigentlich auch nichts anderes ist, als eine Weiche umzustellen, durch die ein Mann stirbt.
Gehirne normaler Menschen taten in der Brückensituation etwas ganz anderes. Bei der Vorstellung, den Mann zu stoßen und damit praktisch von eigener Hand zu töten, schalteten sich bei normalen Menschen sofort Gehirnteile ein, die für starke Gefühle und die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, zuständig sind. Daher wählte das »normale« Gehirn nicht wie im ersten Teil die vernünftigste Entscheidung. Stattdessen sendete es starke Emotionen aus, wie Mitgefühl und Schuldgefühle. Diese Gefühle machen die Vorstellung, den Mann persönlich zu töten, so unerträglich, dass die meisten normalen Menschen es nicht einmal im Gedankenexperiment tun.
Sie würden nie egoistisch wie ein gewissenloser Psychopath handeln?
– Warum tun Sie es dann?
Vielleicht denken Sie jetzt: Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß, dass ich jemals in Wirklichkeit eine solche Entscheidung treffen muss. Da haben Sie sicherlich recht. Das macht die Tatsache, dass Sie schon im Gedankenspiel wegen Ihrer Gefühle die – sachlich betrachtet – unvernünftige Entscheidung treffen würden, aber nicht besser.
Ein
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