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Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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hätte Hilfe beim Jugendamt holen können. Hätte ich das gewusst, hätte ich mich beim Jugendamt gemeldet. Doch so habe ich alles mit mir alleine ausgemacht und dachte, das sei der einzige Weg. Eines Abends drohte meine Mutter mir, dass sie mich nun wirklich rausschmeißen würde. Ich solle am nächsten Morgen verschwinden. An diesem Abend nahm ich alle Tabletten, die ich heimlich gesammelt hatte. Ich fühlte mich bald furchtbar krank, schwach und mir war übel. In der Hoffnung, dass ich einschlafen und dabei sterben würde, legte ich mich in mein Bett. Doch am nächsten Morgen wachte ich wieder auf. Mir ging es weiterhin richtig schlecht. Ich übergab mich mehrmals und fühlte mich sehr schwach. Weil ich nicht wusste, was ich nun tun sollte, und auch nicht, ob meine Mutter mich nun wirklich vor die Tür setzen würde, schrieb ich ihr einen kurzen Brief. Darin erklärte ich ihr, was ich getan hatte und warum ich so krank wirkte. Sie las den Brief und wurde nur noch wütender. Dann sagte sie mir, wenn ich das Gefühl hätte, ich bräuchte einen Notarzt, dann solle ich mir selbst einen rufen. Die würden mich dann auch direkt in die geschlossene Psychiatrie bringen, wo ich ja offenbar hingehöre. Warum ich das getan hatte und wie es mir ging, war ihr völlig egal. Ich war unglaublich erschöpft und lag den ganzen Tag nur in meinem Bett. Wahrscheinlich hat Mutter doch befürchtet, dass sich mein Zustand verschlimmern könnte. Sie hat nämlich alle paar Minuten irgendwas gerufen, auf das ich antworten musste. Damit hat sie wohl überprüft, ob ich noch ansprechbar war. Zum Glück wurde mein Zustand langsam besser. Natürlich warf sie mich dann doch nicht aus der Wohnung raus.
    Leider bin ich auch nicht das einzige Kind meiner Mutter, das sich schon früh das Leben nehmen wollte. Meine ältere Schwester Cindy hat versucht, mit acht Jahren aus einem Fenster in einem höheren Stockwerk zu springen. Als sie neun Jahre alt war, wurde sie bei uns durch das Jugendamt rausgeholt. Sie lebte dann bei ihrer Großmutter. Cindy sollte dann auf eine Sonderschule, denn als sie zu ihrer Oma kam, konnte sie weder lesen, schreiben noch rechnen, obwohl sie schon in der dritten Klasse war. Unsere Mutter hat sich darum nie gekümmert. Glücklicherweise kam Cindy dann auf eine spezielle Schule, wo sie später einen Realschulabschluss machte. Cindy ist seit acht Jahren stationär und ambulant in Therapie, den Kontakt zu unserer Mutter hat sie längst abgebrochen.
    Auch ich bin dabei, mir einen ambulanten Therapieplatz zu suchen. Dieser Schritt fällt mir immer noch sehr schwer. Doch meine Kindheit und auch die letzten Jahre meines Lebens beeinflussen mich so sehr, dass ich damit alleine nicht mehr klarkomme. Ich kann mich nicht erinnern, je so etwas wie Mutterliebe gespürt zu haben. Vielleicht war ich zu jung, um mich daran erinnern zu können, aber in der Zeit, an die ich mich erinnern kann, habe ich mich nie geliebt gefühlt.«
    Typisch für Psychopathen tat Tinas Mutter – ohne das geringste Mitgefühl oder Schuldgefühl – stets das, was ihr gerade für sich am wichtigsten erschien. Ihr Verhalten war unvorhersehbar und von ihren plötzlichen Launen abhängig. Sie schreckte dabei nicht davor zurück, ihre damals minderjährigen Kinder einfach alleine zu lassen. So war sie eines Tages plötzlich weg – mit ihrem ersten Ehemann, wie sich später herausstellte –, und eine Woche lang musste sich ein Onkel um die Kinder kümmern. Ohne Geld, ohne Essen im Kühlschrank.
    Obwohl Tinas Mutter stets behauptete, ihre Kinder über alles zu lieben, zeigt ihr Verhalten das genaue Gegenteil. Ich gehe allerdings davon aus, dass Tinas Mutter in typisch psychopathischer Art »Liebe« mit »Besitz« verwechselt. In ihrer Welt sind ihre Kinder Objekte, die ihre Bedürfnisse befriedigen und dabei möglichst wenig Kosten – welcher Art auch immer – für sie erzeugen sollen. Diese Haltung ging so weit, dass ihr selbst die körperliche Gesundheit ihrer Kinder stets egal war. Unter den Folgen leiden die Kinder bis heute. Dirk, der inzwischen erwachsene Bruder, brach sich als Kind den Zeh, konnte dies mangels Versicherungsschutz aber nicht behandeln lassen. Der Zeh ist falsch zusammengewachsen. Dirk hat außerdem Probleme mit den Augen und seit frühester Kindheit – wie seine Schwester Linda – Asthma. Tina selbst hat, mangels zahnärztlicher Behandlung, bis heute einige Milchzähne.
    Wie es für stark psychopathische Menschen typisch ist, war Tinas

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