Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Mutter kein Verständnis, und es kam häufiger zu Auseinandersetzungen.
»Als ich noch zur Schule ging, hatte meine Mutter ein Bügelstudio. Dort musste ich nach der Schule arbeiten und mich anschließend um den Haushalt kümmern. Ein privates Leben, so etwas wie Freizeit, gab es kaum. In der Zeit, bevor ich von zu Hause ausziehen konnte, habe ich mich nie wie ihr Kind gefühlt, sondern vielmehr, als wäre ich das Eigentum meiner Mutter, über das sie frei verfügen konnte.
Für mich war es ganz selbstverständlich, dass ich, sobald ich eigenes Geld verdienen könnte, dann auch regelmäßig etwas zu Hause für Unterkunft und Essen bezahlen würde. Allerdings konnte ich, solange ich kein eigenes Einkommen hatte, auch noch nichts abgeben. Nach dem Schulabschluss machte ich ein einjähriges gelenktes Praktikum in einer Tischlerei. Das bedeutet, dass ich während des Praktikums auch die Berufsschule besuchte. Da es ein Praktikum war, bekam ich noch keine Vergütung bis auf die Fahrkarte, mit der ich zu meinem Praktikumsplatz fahren konnte. Ich war oft sehr kaputt, da es eine körperlich sehr anstrengende Arbeit als Tischlerin ist. Es hat etwas gedauert, bis ich mich darauf eingestellt hatte. Aus diesem Grund machte ich dann nach der Arbeit zu Hause etwas weniger Hausarbeit als zu meiner Schulzeit. Neben Arbeit und Haushalt wollte ich einfach auch ein Stück weit mein eigenes Leben leben. Dafür hatte Mutter kein Verständnis, und wir stritten uns oft darüber.
Bei einem dieser Streits fragte ich sie, warum sie so viele Kinder in die Welt gesetzt, sich aber kaum jemals um uns gekümmert hat. Sie wollte immer selbstständig sein, und ich sagte ihr, dass es besser gewesen wäre, wenn sie stattdessen öfter für uns Kinder da gewesen wäre. Dafür hätte sie nur Hilfe vom Arbeitsamt in Anspruch nehmen müssen, anstatt sich und uns immer weiter zu verschulden und kriminell zu werden. Mutter antwortete darauf: ›Ich hätte euch Kinder gehasst, wenn ich wegen euch zum Arbeitsamt hätte gehen müssen.‹ Ich war trotz allem, was ich bis dahin mit ihr erlebt habe, total geschockt von dieser Aussage.«
Tinas Mutter erpresste ihre Kinder immer auf dieselbe Art: mit der Liebe der Geschwister zueinander. Dies ist sicher eins der grausamsten emotionalen Zwangsmittel, die eine Mutter ihren Kindern antun kann. Tina beschreibt, wie sie als Kind in der gleichen Situation war wie ihre kleine Schwester Linda heute:
»Als meine große Schwester Cindy nicht mehr bei uns wohnte, hatten wir erst einmal keinen Kontakt mehr zueinander. Sehr viel später, als sie schreiben gelernt hatte, haben wir uns ein paarmal Briefe geschrieben oder sagen wir besser: Wir versuchten es. Ab und zu habe ich einen Brief, der an mich adressiert war, bekommen. Oft aber verschwanden die Briefe, nachdem unsere Mutter sie gelesen hatte, im Schrank, ohne dass ich sie zu sehen bekam. Wenn ich antwortete, dann musste ich schreiben, was unsere Mutter mir vorgab. Das waren dann Aussagen wie: ›Wenn Du Kontakt zu uns Kindern haben willst, dann geht das nur, wenn Du auch Kontakt zu Mama hast.‹ Ich musste meine Schwester auch im Brief fragen, warum sie unsere Mutter nur noch bei ihrem Vornamen nennt und nicht ›Mama‹ zu ihr sagt. Meine Schwester merkte dann, dass der Inhalt des Briefes nicht von mir war. Von mir war nur die Schrift.
Unsere Mutter hat lange Zeit versucht, dass Cindy und ich uns nicht wieder näherkommen. Sie hat uns gegenseitig beim anderen schlechtgemacht. Irgendwann hat das nicht mehr funktioniert. Wir schafften es, uns allein – ohne sie – zu unterhalten und die Dinge zwischen uns auf diese Weise zu klären. Ich bekam dadurch meine Schwester wieder, habe sie unheimlich lieb gewonnen und bin froh, dass wir eine zweite Chance bekommen haben. Heute schafft unsere Mutter es nicht mehr, einen Keil in unsere Geschwisterbeziehung zu treiben.«
Tinas Geschwister entwickelten wegen der schwierigen Kindheit, die sie bei ihrer Mutter hatten, durch die Bank gravierende Probleme. Die Auswirkungen dieses Elternhauses schildert Tina so:
»Mein Bruder Michael ist als Jugendlicher eine lange Zeit nicht mehr nach Hause gekommen. Er schlief bei Freunden oder auch auf der Straße. Mal war er einen Tag bei uns, doch am nächsten Tag war er wieder für lange Zeit weg. Er hatte sogar Erfrierungen am Fuß, weil er im Winter auf der Straße schlief. Nach etwa eineinhalb Jahren lebte er wieder regelmäßig bei uns. Michael und auch mein Bruder Dirk haben beide
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