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Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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können.
    Ich habe eingangs von meinem »ersten« Täter berichtet, dem Mann mit dem netten Lächeln, der seine Frau erstickt hatte. Auch mit diesem Täter, mit diesem Fall, ging ich sachlich um. Obwohl mir dieser Gedanke kam, fühlte ich mich nicht unwohl. Gemeinsam mit meiner Betreuerin konzentrierte ich mich darauf, die anstehenden psychologischen Fragen zu klären: Welche Persönlichkeitseigenschaften lässt dieser Mann erkennen, wie steht er zum jetzigen Zeitpunkt zu seiner Tat, ist er therapiemotiviert? Bei diesem Fall und den vielen Fällen danach merkte ich, dass mir die Arbeit gefällt und es mir dabei gut geht. Für mich ist die Lösung menschlicher Rätsel, die hinter Verbrechen stecken, die interessanteste Beschäftigung überhaupt. Unterhaltsam ist sie trotzdem nicht.
Dünnes Eis
    Manchmal begehen Menschen, denen es niemand zutraute, weil sie völlig normal wirkten, plötzlich und für alle schockierend grausame Verbrechen. Sie schaffen es, sehr lange ein gesellschaftlich akzeptiertes Leben zu führen, bevor etwas passiert, das in ihnen die Tat auslöst.
    Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, wie dünn die Grenzlinie zwischen Menschen, die Täter werden, und jenen, die es nicht werden, wirklich ist. Einen Beleg dafür mag folgende, eigentlich erschreckende Statistik geben: Seit es in Deutschland einfacher ist, sich scheiden zu lassen, und Frauen nach einer Scheidung nicht mehr zwangsläufig vor dem finanziellen Ruin stehen, gibt es weniger Morde an Ehemännern. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, bedeutet dies: Einige Frauen, die vor fünfzig oder hundert Jahren zu Mörderinnen an ihren Gatten geworden wären, werden es heute nicht mehr. Potenzielle Gattenmörderinnen führen also im Hier und Jetzt ein unauffälliges, langes Leben, nur weil es die gesellschaftlichen Umstände »überflüssig machen«, dass sie einen Mord begehen.
    Es hängt aber nicht nur von der Lebensumgebung eines Menschen ab, ob er zum Verbrecher wird, sondern auch von seinen Persönlichkeitsmerkmalen. Sehr spannend dabei ist die Frage, wie viele und welche negativen Merkmale bei einem Menschen zusammenkommen müssen, damit er – unabhängig von seiner Umwelt – zum Verbrecher wird. Es gibt Menschen, die deutlich mehr dieser Eigenschaften haben als die meisten anderen, die also durchaus schwere Straftäter werden könnten – ohne dass dies jemals passieren muss. Obwohl sie den psychopathischen Tätern aus den Massenmedien in einigen Eigenschaften ähnlich sind, leben sie, für ihr Umfeld völlig unauffällig, in unserer Gesellschaft. Sie schaffen es, niemals Taten zu begehen, zu denen sie viel eher als andere im Stande wären.
    Das Eis, auf dem diese Menschen sich bewegen, das sie von schweren Straftätern trennt, ist viel dünner als für die meisten anderen Menschen. Was hält sie also davon ab, zu Tätern zu werden? Dieser Frage ging ich nach, als ich mich ausführlich mit einigen solchen Menschen beschäftigte. Sie arbeiteten mit mir, weil sie mehr über sich selbst und ihre »Andersartigkeit« erfahren wollten. Ich bot ihnen an, alles, was sie mir mitteilten, nur anonymisiert zu verwenden und ihnen meine psychologischen Einschätzungen mitzuteilen. Diese »Versuchspersonen« kennen einander nicht und kamen vollkommen unabhängig voneinander in Kontakt mit mir.
    In einigen auffälligen Eigenschaften ähneln sie sich, vor allem in solchen, die auch bei kriminellen Psychopathen entsprechend auffällig sind. Doch ich sehe gute Gründe dafür, dass meine Gesprächspartner trotz dieser auffälligen Eigenschaften niemals eine kriminelle Laufbahn einschlagen werden. Welche Eigenschaften machen den feinen, aber entscheidenden Unterschied aus zwischen mittelgradig psychopathischen Menschen, die nie kriminell werden, und kriminellen Psychopathen? Wie dünn ist das Eis, auf dem sich meine Gesprächspartner bewegen, wirklich?
    Bevor ich Sie ab dem vierten Kapitel in die Gedankenwelt sowohl krimineller als auch nicht-krimineller psychopathischer Menschen einführe, möchte ich Ihnen vorher noch einige Einblicke in meine Arbeit mit Straftätern geben. Die allermeisten Menschen stellen sich beim Gedanken an Sexual- und Gewaltstraftätern Figuren vor, die Monstern aus gruseligen Märchen ähneln: Düstere Gestalten, die schon als Monster zur Welt kamen, ausschließlich und unveränderlich böse sind und die bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinter einem Busch hervorspringen, um sich auf das nächste Opfer zu stürzen.

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