Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Dieses Bild ist ebenso fernab der Wirklichkeit wie die Vorstellungen vieler Menschen über das Leben im Gefängnis und Therapien von Straftätern. Im Laufe dieses Buches werden Sie Ihr eigenes Gewissen prüfen können, um herauszufinden, wie schmal in jedem Menschen die Trennlinie zwischen „guten“ und „bösen“ Entscheidungen ist. Fast jeder Mensch, der sich für „gut“ hält, kann mit den richtigen Mitteln dazu bewegt werden, eine sehr „böse“ Entscheidung zu treffen. Umgekehrt können zwar nicht alle, aber viele Menschen, die zutiefst „böse“ Verbrechen begangen haben, lernen, in der Zukunft dauerhaft „gute“ Entscheidungen zu treffen. Dies ist kein naiver Glaube sondern eine wissenschaftlich gut erforschte Tatsache. Damit Sie sich vorstellen können, wie und warum Therapeuten und Gutachter mit Straftätern arbeiten, nehme ich Sie nun mit auf einen kleinen Rundgang durch die echte Arbeitswelt forensischer Psychologen und Psychiater. Eine Welt, von der Sie ansonsten wahrscheinlich nie erfahren würden.
KAPITEL 3
GEFÄHRLICHE DUMMHEIT:
VORURTEILE ÜBER SCHWERE STRAFTATEN, STRAFTÄTERTHERAPIE UND KNASTALLTAG
Was hab ich getan?
Guter Gott, was hab ich getan?
Wurde ein Dieb in der Nacht,
wurde ein räudiges Tier.
Ist für mich alles zu spät?
Hab ich den Teufel im Blut?
Und in meiner Brust,
nur die Schreie meiner Wut?
Die Schreie in der Nacht,
die niemand erhört.
Hier steh ich nun
am Wendepunkt all dieser Jahre.
(Jean Valjean in »Les Miserables« – nach dem Roman von Victor Hugo)
Seit 2008 arbeite ich in einer »sozialtherapeutischen Anstalt« in Therapiegruppen für Täter, die Kinder sexuell missbraucht oder andere schwere Gewalttaten begangen haben – meist vollendete oder versuchte Tötungsdelikte. Eine sozialtherapeutische Anstalt ist eine besondere Form des Strafvollzugs: ein Gefängnis, in dem rückfallgefährdete Sexual- und Gewaltstraftäter ein langes und umfangreiches Therapieprogramm absolvieren.
Solche Einrichtungen gibt es in Deutschland seit vierzig Jahren. Genauso lange forschen Wissenschaftler schon daran, wie sich diese Behandlung auf die Rückfallquote schwerer Straftäter auswirkt. Viele Untersuchungen beweisen: Sexual- und Gewaltstraftäter, die in einer solchen Einrichtung die Therapie komplett durchlaufen, werden deutlich seltener rückfällig als jene, die ihre Strafe in einem normalen Gefängnis ohne spezielle Therapie absitzen.
Eines Tages saß ich gerade mit den anderen Psychologen aus dieser Einrichtung beim Mittagessen, als mich eine E-Mail auf dem Smartphone erreichte. Mark Benecke hatte einen Artikel aus einer Zeitung abfotografiert: »Das wird dich sicher interessieren.«
Der Artikel wurde auf der ersten Seite einer Regionalzeitung abgedruckt. Am Ende des Textes steht: »Dies ist ein fiktiver Brief nach einem wahren Sachverhalt«. Obwohl ich jede Menge unsinniger Vorurteile gegen die Therapie schwerer Straftäter gewohnt bin, überraschte mich doch, was ich da las.
Frau Ministerin, wir müssen uns beschweren!
So geht das aber wirklich nicht. Wochenlang hatten wir Sicherungsverwahrte von Madel uns auf den schönen Gruppenausflug mit dem Schiff auf der Elbe gefreut. Den haben Sie uns in letzter Minute verdorben. Das finden wir gemein und müssen uns mal beschweren bei Ihnen. Wir haben das beim gestrigen therapeutischen Mau-Mau-Spielen mit den Psychologen ausgewertet.
Die meinten, wir würden durch die Negativerfahrung in der Rezialsierung oder wie das heißt, also bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zurückgeworfen. Die Betreuer legen nämlich für uns die Hand ins Feuer: dass wir nichts mehr Schlimmes machen wie früher, weil wir immer schön viel Reue zeigen. Wir wollten doch nur Kaffee trinken und Torte essen und unseren Spaß haben … Da wäre bestimmt keiner – naja, kaum einer – abgehauen.
Was wird denn nun eigentlich aus unserem lange geplanten Drachenfest mit dem Motto: »Wir fliegen frei wie der Wind?« Fällt das auch aus? Wir haben gehört, dass es in Europa einen Gerichtshof für Menschenrechte gibt. Da wollen wir uns nun hinwenden, dass man sich endlich für uns einsetzt. Möglichst vor Dezember, damit wir alle zusammen auf den Weihnachtsmarkt können. Mit der Adresse können Sie doch sicher aushelfen? Ach so, wir wollten nochmal an den Antrag auf die Heimkino-Anlage mit Großbildschirm erinnern, wegen der Rezialsierung oder so.
Es grüßt das Komitee der Madel-Verwahrten
Ich zeigte den Artikel meinen
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