Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
natürlich, so was kann man nicht alleine machen. Es waren mehrere meiner Mitschüler. Also den Rädelsführer hab ich dann …« Er zögert kurz, bevor er sagt: »Das war quasi die erste Person in meinem Leben, die ich richtig verhauen habe.« Ich frage, wie schwer er den Mitschüler verhauen hat. Lächelnd sagt er: »Och, so schlimm war es nicht, sonst würd’ ich’s gemerkt haben.« Damit meint er, dass er sich selbst nicht dabei verletzt hat.
»Hat dieser Junge danach sofort sein Verhalten dir gegenüber geändert?«, frage ich. Er versucht, mir die Situation zu erklären: »Eigentlich waren der Junge und ich befreundet. Es war also nicht jemand, den ich hasste oder so. Meine damalige Klasse hat als ›Komplettklasse‹ gut funktioniert, da gab es keine Grüppchenbildung. Im Jahr darauf bin ich sitzengeblieben und kam in eine Klasse mit lauter ›Grüppchen‹. Aber die Klasse, in der das mit dem Mobbing passierte, war eigentlich ein Klassenverband, zu dem ich dazugehörte, auch wenn ich eher im Randbereich der Gruppe war. Es gab keinen in der Klasse, der wirklich ein Außenseiter war. Das fand ich eigentlich sehr gut und habe es später in keiner anderen Klassengemeinschaft nochmals so erlebt.«
»Wenn du dich eigentlich von dieser Klasse angenommen fühltest, womit hat das Ärgern denn dann überhaupt angefangen?«, möchte ich wissen. Es wirkt fast, als wolle er das Verhalten seiner Mitschüler rechtfertigen, als er sagt: »Ich denke, es ist einfach jugendlicher Leichtsinn gewesen. Man guckt einfach mal mit irgendwem, wie weit man bei ihm gehen kann. Internes Rangeln, denke ich mal, ist es gewesen.«
Ich frage ihn, ob keiner seiner Mitschüler sich in dieser Situation auf seine Seite gestellt hat. Darüber denkt er eine Weile nach: »Das Problem an der Situation war, dass es keinen zum ›auf einer Seite stehen‹ gab. Es war kein …« Offenbar fällt es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden, bis er fortfährt: »Es waren eher viele Nadelstiche. Die sind nicht groß und breit verbal über mich hergezogen, sondern es war mehr die Nadelstichnummer.«
»Haben sie das über ein paar Tage oder Wochen gemacht?«, frage ich. Seine Antwort überrascht mich: »Nö, nur so ein paar Stunden, aber es hat gereicht. Danach war das auch nicht mehr so.« Um besser zu verstehen, warum er ausgerechnet an diesem Tag ausrastete, frage ich: »Wenn es nur an diesem Tag einige Stunden lang war, warum hat dich das so sehr getroffen, dass du dann ausgerastet bist?«
Sofort antwortet er: »Keine Ahnung«, überlegt aber und fügt dann hinzu: »Der Grund könnte sein, dass die Person, die mich angriff, ein Freund von mir war. Einer, von dem ich das nicht erwartet hätte.« Diese Antwort finde ich nachvollziehbar, hake aber nochmals nach: »Also wäre es jemand Fremdes gewesen, wäre es dir weniger unangenehm gewesen?« Wieder überlegt er eine Weile, bevor er sagt: »Also bei jemand vollkommen Fremdem wäre es wahrscheinlich um Längen weniger unangenehm für mich gewesen.«
Psychopathisches »Quid pro quo«
– Falls Vertrauensaufbau, dann nur mit Netz und doppeltem Boden
Vertrauen ist gut,
Kontrolle ist besser!
(Redewendung, Wladimir Iljitsch Lenin zugeschrieben)
Dies war ein wichtiger Punkt in Christians Entwicklung. Er machte die Erfahrung, wegen der Schwäche, für die er sich am meisten schämte, ausgerechnet von Menschen abgewertet zu werden, die er mochte. Vorher hatte er versucht, sich darauf zu verlassen, dass seine Freunde ihn so mögen, wie er ist. Wie ein Kind mit einer solchen Erfahrung umgehen kann, hängt davon ab, wie emotional gefestigt und ausgeglichen es zu diesem Zeitpunkt ist und wie viel Selbstwertgefühl es hat.
Christian war seine Legasthenie damals äußerst unangenehm, vor allem da er intelligent ist und sich – ebenso wie sein Umfeld – nicht erklären konnte, warum er diese »Schwäche« hat. Darunter litt sein Selbstwertgefühl. Das versuchte er schon als Kind damit zu kompensieren, dass er sich in anderen Dingen hervortat. So bekam er einmal Stubenarrest, weil er absichtlich sehr dicht vor einem Auto über die Straße rannte. Er sagte mir, er habe dies getan, weil seine Freunde dabei waren und er ihnen beweisen wollte, wie schnell und mutig er ist.
Sein emotionales Vertrauen in Menschen hat wegen der Reaktionen seines Umfeldes auf die damals noch nicht richtig verstandene Legasthenie deutlichen Schaden genommen. Von daher wird nachvollziehbar, warum er als Erwachsener viele Strategien
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