Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
erzähle Ihnen was, Sie erzählen mir etwas.«
Dies tut er nicht einmal im Austausch für persönliche Informationen, sondern »nur« für Informationen, die beim Aufklären eines anderen Kriminalfalls helfen sollen. Er betreibt dies also zum persönlichen Vergnügen, weil er so Macht über die Agentin bekommt. Sein Wissen über sie benutzt er immer wieder, um ihre Gefühle und Verhaltensweisen zu manipulieren. Wie ich schon erwähnte, sind Macht und Kontrolle Psychopathen sehr wichtig. Lecter nutzt das Prinzip »Quid pro quo« also als »psychopathisches Spielchen« zur persönlichen Unterhaltung und um seinen starken Machtdrang zu befriedigen.
Auch im wirklichen Leben sammeln psychopathische Menschen Informationen über ihre Mitmenschen. Je mehr sie über eine Person wissen, desto besser können sie »logisch« auf sie reagieren. Dies wurde auch bei Alexanders Discobesuch deutlich: Für ihn war die Situation unberechenbar, weil ihm sowohl »Informationen über typische, zwischenmenschliche Verhaltensregeln in Diskotheken fehlten als auch über die vielen daran beteiligten Menschen. Dies erzeugte in ihm ein Gefühl von »Kontrollverlust«, was für psychopathische Menschen eine der schlimmsten Empfindungen überhaupt ist.
Ein Wutsturm und die Ruhe danach
Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs möchte ich von Christian wissen, wie das Verhältnis zu den Mitschülern, die ihn geärgert hatten, nach seinem Ausraster war. Sofort sagt er: »Tadellos wie vorher. Es gab keine Revanche. Dieser Junge hat einfach eingesehen, dass das, was er gemacht hat, wohl nicht so seine Sache war.« »Also taten alle so, als sei nichts gewesen?«, frage ich, worauf er antwortet: »Genau.«
Mich interessiert, ob Christian damals davon ausging, stärker zu sein als der andere Junge: »Nee, eigentlich dachte ich, es sei andersrum. Ich war damals der Kleinste und Zierlichste in der Klasse, er war der Zweitstärkste dort. Wahrscheinlich hat er sich damals auch sehr gewundert, dass ich ihn auf den Boden gefaltet hab.« »Wie erklärst du dir, dass das überhaupt möglich war?«, möchte ich wissen, worauf er ohne zu zögern sagt: »Wille. Ganz einfach. Sitzen die ersten zwei Schläge richtig, ist der Rest …« Er lächelt vielsagend und ergänzt: »Das ist ’ne ganz einfache Nummer, man nutzt den Überraschungseffekt und dann ist es halt wirklich zu machen.«
Mich interessiert, ob Christian sich bei der Schlägerei überhaupt noch im Griff hatte, deshalb frage ich: »Als du diesen Jungen damals verhauen hast, wann hast du damit aufgehört? Wonach hast du entschieden, wie weit du gehst?« Grinsend sagt er: »Na, nachdem nicht mehr viel Gegenreaktion kam. Es ging auch sehr schnell, also es hat nicht lang gedauert. Lass die ganze Sache mal zwanzig bis dreißig Sekunden gedauert haben. Wir waren an unseren Schließfächern. Ich hab ihn vor seinem Schließfach zusammengefaltet und bin gegangen. Während der Stärkste aus der Klasse, der dessen Freund war, mit offenem Mund danebenstand und zugeguckt hat.« Ich frage, warum der Klassenstärkste sich nicht eingemischt hat. »Ich denke, er war total überrascht. In erster Linie wird er sich nicht eingemischt haben, weil er davon ausging, sein Kumpel schafft das schon alleine. Er konnte wohl nicht fassen, dass ich dazu in der Lage war, den anderen so fertigzumachen.«
Auch Alexander hatte während seiner Schulzeit einen sehr heftigen Wutausbruch. Er wurde ebenso wie Christian immer wieder von Mitschülern gehänselt. Den Grund dafür beschrieb er so: »Also ich habe klar in meiner Kindheit und Jugend einiges an Abwertung durch Gleichaltrige hinnehmen müssen. Es war einfach krass zu merken: Alle anderen sind anders als ich. Sie fühlen anders, denken anders und interessieren sich für andere Dinge. Das Problem ist: Ich glaube, Kinder können so was sehen. Seit ich nur noch mit Erwachsenen und kaum noch mit Kindern zu tun habe, ist das nicht mehr ansatzweise so schlimm. Aber Kinder kriegen es mit, wenn jemand ›anders‹ ist. Vielleicht merken Erwachsene das auch, aber sie zeigen es nicht.«
Als er in der Grundschule war, wurde Alexander von einem Mitschüler besonders lange und heftig gehänselt. Irgendwann explodierte seine Wut, und er brach diesem Jungen gezielt den Unterarm. Der Mitschüler ärgerte ihn nie wieder. Doch andere, die ihn in einer Gruppe über Jahre ärgerten, hörten nicht so schnell damit auf. Alexander erzählt: »Damals wurde ich eben relativ viel gehänselt. Das habe ich
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