Auf einmal ist Hoffnung
»Sergeant McLintock hat mir gestern nacht einen anderen Kollegen genannt, der den Fall heute übernommen hätte, wenn wir gestern nicht das Protokoll abgeschlossen hätten.«
Da er zögerte, setzte sie hinzu: »Es ist doch abgeschlossen, das Protokoll, oder nicht?«
»Jaja, natürlich.« Er überdachte blitzschnell seine Situation und kam zu dem Schluß, daß Jennifer Kahn ihm gegenüber vollkommen arglos war. Er ließ sich von ihr über McLintock erzählen, über dessen Nachforschungen und seine Fragen an sie.
Die Serviererin brachte eine Tasse und schenkte ihm aus der großen metallenen Kanne dampfenden Kaffee ein. Rocha wartete, bis sie wieder außer Hörweite war, und gab sich verwundert: »Welchen Namen hat McLintock denn genannt?«
»Ich glaube, Rosario, kann das sein?« Jennifer führte ihre Tasse zum Mund und sah Rocha abwartend an.
»Warum nicht?« zeigte er sich unbeteiligt. »Rosario ist sicher ein guter Mann«, und fragte sie offen: »Sind Sie jetzt enttäuscht?«
»Nein.« Eine zarte Röte huschte über ihr Gesicht. Ihr war heiß. Sie nahm ihre Umhängetasche von der Stuhllehne, holte ein Papiertaschentuch heraus und tupfte sich damit die Nase ab.
»Aber?« Er lächelte amüsiert.
»Nichts.« Sie wollte ihm sagen, daß sie es, wenn überhaupt, lieber mit einem irischen Polizisten zu tun hatte als mit einem aus der spanischen Mannschaft. Doch sie unterdrückte es und forderte ihn statt dessen kühl auf: »Stellen Sie Ihre Fragen.«
»Ich muß zuerst noch etwas klarstellen. Ich bin Arzt, kein Detektiv. Unser Department wird eingeschaltet, wenn irgendwelche medizinisch-analytischen Fragen offen sind.« Er nahm einen Schluck Kaffee und begann: »Hat Ihr Vater unter schwerwiegenden Krankheiten gelitten?«
»Nein. Das hat McLintock auch schon gefragt.« Es kam zurückhaltend. Sie musterte ihn verstohlen. Obwohl er angeblich von der Polizei war und ihr aus einem schrecklichen Anlaß gegenübersaß, war sie von seinem Verhalten angenehm berührt. Er war von einer beeindruckenden Zuvorkommenheit, und seine samtweiche Stimme klang teilnahmsvoll. Daß an der Theke ein bulliger junger Mann saß, ein Mestize, der mit ihrem Gesprächspartner Blicke austauschte, bemerkte sie nicht.
»Es tut mir leid, Miss Kahn, wenn meine Fragen für Sie eine Wiederholung bedeuten, aber ich will nichts außer acht lassen, denn ich verfolge ein bestimmtes Ziel.« Rocha blickte ihr erwartungsvoll in die Augen.
»Vor ein paar Jahren war mein Vater auf eine Herzschwäche untersucht worden, doch hat sich der Verdacht nicht erhärtet.«
»Wissen Sie zufällig noch, in welcher Klinik diese Untersuchung vorgenommen wurde?« Mit dieser für ihn völlig unwichtigen Frage versuchte er Jennifer in Sicherheit zu wiegen und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Er stellte ihr noch mehrere ähnlich unbedeutende Fragen, und sie beantwortete jede bereitwillig. Er leitete geschickt über auf ihren Beruf, nahm Anteil an der Geschichte mit Chester Wilson und log ihr dann vor, daß seine Mutter in jungen Jahren eine bekannte Tänzerin an der Madrider Oper gewesen sei und er sogar noch die legendäre Ulanowa erlebt habe.
»In Schwanensee?« fragte sie gespannt.
»Ja, in Schwanensee«, log er mit seiner einschmeichelnden, vollen Stimme, »aber auch bei uns zu Hause.«
»Sie haben die Ulanowa persönlich kennengelernt?« fragte sie beeindruckt. Sie hatte längst vergessen, daß sie ihm am Anfang gesagt hatte, sie habe nur wenig Zeit für ihn.
»Ja«, bestätigte er, »sie hat während ihres Gastspiels bei uns eine Woche lang gewohnt.«
»Sie hat sogar bei Ihnen gewohnt?« Sie war interessiert.
»Ja.« Er tat, als sei es für ihn selbstverständlich.
»Erzählen Sie. Wie fanden Sie sie als Mensch?«
»Sie war äußerst diszipliniert. Aber sie konnte auch befreit lachen.« Er entwarf von der Frau, die er nicht kannte, ein zu Herzen gehendes Bild und vergaß keine Kleinigkeit zu erwähnen, nicht einmal die geschmeidigen Bewegungen ihrer langen, schmalen Hände.
Jennifer hing geradezu an seinen Lippen. Er wußte, daß er endgültig ihr Vertrauen gewonnen hatte.
Behutsam brachte er sein Anliegen wieder ins Gespräch und horchte sie aus, ohne daß sie es bemerkte. Er ließ sie von ihrem Vater erzählen, wie er gelebt hatte, erfolgreich im Beruf und zurückgezogen im Privatleben. Wenig später hatte er herausbekommen, daß die Chinesin May Tsang die Wahrheit gesprochen hatte: Im Haus an der Madison Avenue gab es tatsächlich keinen
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