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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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konnte sich nicht aufraffen, irgendetwas zu arbeiten. Ihm war zu kalt, ihm war zu heiß. Er verblödete. War frustriert. Hörte Transistorradio. Versank in Depression. Es gab eine Phase, in der er sich davon zu überzeugen versuchte, dass es besser so sei. Warum schwer arbeiten, wenn man nicht musste, wenn es möglich war, auf einem Hügel zu sitzen und über eine schöne Landschaft zu schauen, die Augen zu schließen und einfach zu sein. Doch jetzt floh ihn der Schlaf in einer neuen, ungekannten Klarheit, und er öffnete weit die Augen, ohne etwas zu sehen, und dachte, sie ist zu schwer, diese Welt von Ma’aleh Chermesch 3, zu finster. Wenn er bleiben wollte, würde er sich darauf einlassen und ein Teil davon werden müssen. Und das konnte er nicht. Er hörte sich Predigten, Interpretationen und Kommentare, Lehrstunden an – er verstand es nicht. Er betrachtete seinen Bruder, seine leuchtenden Augen. Sah, dass er erregt war, das Licht sah, doch er selbst sah genau das, was er jetzt sah: nichts.
    Er erinnerte sich, wie ihm bei einer der Zufallsbegegnungen in Tel Aviv jemand die Kopfhörer eines iPods gegeben und gesagt hatte: »Hör mal.« Irgendein Akustikstück. Gitarre. Eine schöne Melodie. Er bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Auch hier gab es Gitarrenakkorde und schöne Melodien, aber als die Klänge aus den weißen Kopfhörern in sein Gehirn gesickert waren, hatte er es anders empfunden. Das war ein Trost. Einer von der Herde zu sein, wenn auch allein innerhalb der Herde, das konnte er am besten, und das war gut genug, wenn es seine Herde war. Er lächelte erheitert, als er den Druck der Luft in seinen Eingeweiden aufsteigen spürte, und drückte einen donnernd rollenden Furz heraus, von dem er hoffte, dass er ihn ein wenig wärmen würde. Er erinnerte sich an einen Ausdruck aus seiner Jugendzeit und fragte laut ins Dunkel hinein: »Wer hat eine Taube losgelassen?« Er gab sich selbst mit einem hohlen Auflachen die Antwort in der Stille des trüben Wohnwagens.
    Währenddessen, sozusagen eine Geschichte von Liebe und Dunkelheit: Nachdem die Versuche, den bejahrten Generator zu therapieren, einer nach dem anderen fehlgeschlagen waren und nachdem sich der eisige Wind etwas gelegt hatte, verließ Gavriel Nechuschtan den Platz und beschloss, den längeren Weg zurück zu nehmen, um an Scha’ulits Wohnwagen vorbeizukommen. Er hatte nicht vor hineinzugehen, wollte nur von weitem, mit einem Blick, überprüfen, ob alles ruhig war, und sich vergewissern, dass der Stromausfall das Leben im Hause Rivlin nicht beeinträchtigt hatte. Als seine Schuhe auf dem Schottergefälle neben dem Eingangstor knirschten, hörte er, wie sich eine Tür öffnete und schloss und Schritte im Dunkeln.
    »Ah, du bist das«, sagte Scha’ulit mit rissiger Stimme. »Was ist passiert?«
    »Nichts. Wir haben Stromausfall. Der Generator ist ausgefallen, und sie haben es nicht geschafft, ihn zu reparieren, das wird die ganze Nacht so sein. Ich wollte nur … kommt ihr zurecht? Geht das mit den Kindern? Hast du genug Decken?«
    Sie lächelte, was er nicht sah, gab ein kleines Kichern von sich, das er hörte, und flüsterte: »Danke. Ja, ich glaube schon. Wenn ich sie im Dunkeln finde …« Er lachte mit ihr. Und suchte mit ihr die Decken im Schrank. Roch ihr Haar, schläfrig und warm vom unterbrochenen Schlaf. Hatte die zarten, stetigen, beruhigenden Atemzüge der Kinder im Ohr. Stieß gegen ihren Fuß und hörte, wie sie eine Welle hemmungslosen Gelächters erstickte, und es zu einer Reihe hastiger Atemzüge drosselte.
    Kerzen fand sie nicht, Zündhölzer schon. Sie machte Tee auf dem Gasherd. Er saß auf dem Sofa und sie im Sessel im Licht einer blauen, geduckten Flamme unter dem Wasserkessel. Sie sprachen im Dunkeln von der Finsternis: ägyptische Finsternis; die Dunkelheit, die sich über die Welt draußen senkt, und das Licht, das drinnen leuchtet; der andauernde Konflikt zwischen Innen und Außen; die Plage der Finsternis, die Tod über das ganze Land brachte, eine solche Finsternis, dass man sie greifen kann – man konnte die Finsternis mit Händen greifen. Gavriel sagte, nach einer zwar nicht sichtbaren, aber gut spürbaren Gähnserie: »Willst du nicht schlafen gehen?«
    »Liebend gern … es ist zu kalt hier … aber ich will auch weiterreden … Möchtest du mitkommen?«
    Die Pulsschläge zwischen einem Satz und dem andern. Die kalte Luft erwärmte sich mit jedem Wort, jedem Mundhauch. Das Pochen in Gabis Handgelenk, in der Pulsader.

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