Auf fremdem Land - Roman
Sekundenbruchteil vor dem »Schalom« wusste Gabi, dass auch in Scha’ulits Gedanken der letzte Schabbatabend präsent war.
Er fragte sie nach der Insektenlage im Haus. Sie fragte nach seiner Arbeit. Die Überreste des Traums machten ihn leicht verlegen, und auch sie bewegte sich etwas unbehaglich, so ganz ohne Kinder, die normalerweise die Aufmerksamkeit ablenkten und die Spannung lösten. Sie lud ihn zum Tee ein, und für sich selbst machte sie schwarzen Kaffee in einem echten Glas, pustete auf die Körnchen, die in einem Strudel von Bläschen emportrieben und trank vorsichtig. Sie fragte, ob er heute Morgen auch kein warmes Wasser gehabt habe. Sie sei nicht imstande, so aufzuwachen, ohne warmes Wasser, könne sich nicht die Zähne putzen, und ohne Zähneputzen fange der Tag nicht richtig an. Das falle ihr am schwersten an dem Leben hier, das mit dem warmen Wasser. Er sagte, er brauche am Morgen eiskaltes Wasser. Wenn er sein Gesicht nicht mit kaltem Wasser wasche, werde er den Schlaf nicht los, auch im Winter, und es störe ihn, dass das Wasser im Sommer nicht kalt genug sei, um aufzuwachen. Er ging und sah sich den Boiler an, fand jedoch kein Problem, das Wasser war warm. Nach einer kalten Nacht, erklärte er, dauerte es manchmal seine Zeit, bis es ankam.
Nachher versuchte er zu rekonstruieren, wie sie auf Miki zu sprechen gekommen waren. Er war über sich selbst erschrocken, aber vor allem vor ihr – einfach so, an einem gewöhnlichen Wintertag mit Tee auf der Schaukel im Hof des Hauses von Scha’ulit Rivlin. Sie hatte gefragt, weshalb er nicht bei irgendeiner Hochzeit gewesen war, die in Ma’aleh Chermesch stattgefunden hatte. Er freute sich innerlich, dass ihr seine Abwesenheit aufgefallen war, und erklärte, dass er sich auf Hochzeiten unwohl fühle. Die Tänze, die Kreise, die Lieder, die scheinbar unbeherrschte Freude – er hatte manchmal das Gefühl, so von der Seite aus, dass sie durchaus sehr kontrolliert, fast erzwungen war, und hatte gemerkt, dass er sich meistens nicht als Teil davon empfand. Von Hochzeiten kamen sie irgendwie auf Geburtstage zu sprechen. Sie erzählte, dass der Geburtstag ihres seligen Vaters in diese Woche falle. Sie sagte, dass ihr mit jedem seiner Geburtstage der Schmerz größer zu werden schien. Ausgerechnet am Geburtstag, nicht an dem Tag, an dem ihn die Terroristen, getilgt sei ihr Name, von ihr genommen hatten. Gut, sagte Gabi, am Todestag verzeichnet man das Ende, den Anfang eines Lebens ohne ihn. Das ist eigentlich ein Erinnerungstag, wo man seiner selbst gedenkt. Aber am Geburtstag denkt man an die Zeit, die er hätte leben sollen, an sein Leben, das nicht mehr war. Der Geburtstag erinnere an ihn.
»Woher weißt du das?«, fragte sie ihn, als ob der warme Wasserstrom auf einmal bei ihr angekommen wäre.
»Ich weiß es eben«, erwiderte er. Auch sein Geburtstag nähere sich, erzählte er. Er lächelte, und das Lächeln entblößte seine großen Zähne, verengte seine warmen Augen, dehnte den Junggesellenbart, der Pflege nötig gehabt hätte.
»Aber woher kennst du diesen Unterschied zwischen Geburtstag und Todestag?«, beharrte sie. Und da erzählte er ihr von Miki. Er war zwar nicht tot, dem Herrn sei Dank, doch Gabi vermerkte in jedem Jahr den Tag der Trennung, den Tag, nach dem er seinen Sohn nicht mehr wiedersah, wie einen Todestag. Er erklärte nicht, warum er ihn nicht sehen oder mit ihm sprechen konnte, schob die Schuld auf seine Geschiedene, sagte, sie sei auf die andere Seite der Welt geflüchtet, dass sie ein bisschen komisch sei und nicht einmal eine Kontaktaufnahme zulasse. Und er erzählte, wie er sich jedes Jahr, wenn Mikis Geburtstag zu Ende des Herbsts näher rückte, wenn die Welt düster und die Tage dunkler wurden, entsetzlich fühlte. Dieses Jahr würde Miki acht Jahre alt werden, sagte er Scha’ulit, die mit glänzenden Augen zuhörte, die Erste der Hügelbewohner, die von ihm von Miki erfuhr. Wie bei Gittit – es gab etwas an Scha’ulit, das einen öffnete, dazu verleitete, die intimsten Geschichten zu erzählen. Er redete über Miki, und ein scharfer Schmerz lähmte ihn, doch er hörte nicht auf. Es sei unmöglich, sich von dem Schmerz um ein Kind freizumachen. Die Sehnsucht. Die Reue über jeden Streit, über jede Weigerung. Dieser so abgrundtiefe Mangel, ein nicht enden wollender Alptraum. Er versuche, Anna nicht die Schuld zu geben. Sie habe nicht den Glauben an den Herrn der Welt, der ihr die Kraft zur Überwindung gäbe.
»In einer
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