Auf Inseln (German Edition)
bedauerten sie Paul, der einen weltanschaulichen Tiefschlag erhalten hatte, hier an Deck der St. Bonifazius, aber solche Schläge würden seinen Glauben nicht zerstören. Warum glaubt der Mensch, fragte ich mich.
Diese Diskussionen führten in der Regel zu nichts. Obgleich Paul vermutlich der intelligentere von uns beiden war, beispielsweise überstieg seine mathematische Begabung meine um ein Vielfaches, er war auch wesentlich praktischer als ich, mochte er meiner kleinen Logik nicht folgen. Existenzialistische Gründe, die Existenz Gottes infrage zu stellen, akzeptierte er überhaupt nicht. Ich hatte zu viel Bauchkrämpfe, Dünnschiss und Kotzerei in meinem Leben gehabt, um noch an den Sinn einer Schöpfung zu glauben, den mir aber ein verlogenes theokratisches System weißmachen wollte. Was sollte bei einer göttlichen Ordnung das Leid in der Welt? Solche Fragen wollte Paul nicht akzeptieren. Ich war mir bewusst, dass große Geister in der Geschichte der Menschheit, mit denen ich mich nicht messen wollte, an Gott geglaubt hatten. Newton und Leibnitz hatten an Gott geglaubt, der junge Einstein und Heisenberg, natürlich auch Robert Matthew. Große musikalische Genies wie Bach, deren Musik einer inneren Mathematik folgte, hatten an Gott geglaubt, vielleicht sogar geglaubt, dass ihr Talent gottgegeben war. Es gab natürlich in der Geschichte der Erde auch Geistesgrößen, die an Gott gezweifelt oder atheistisch waren. New Avignon kannte keine solchen Gelehrten. Die Existenz Gottes schien wie ein unumstößliches Naturgesetz, stärker noch wie ein Axiom, auf das alles beruhte und so unumstößlich, wie das eins und eins zwei sind. Die Existenz Gottes schien in den Genen der Menschen zu liegen. Ich hatte einen Gendefekt. Zumindest schien mir die Erziehung und der kulturelle Einfluss nicht unbedeutend zu sein, die einzige Erklärung für mich, dass die Geistesgrößen von keinen vernünftigen Argumenten erreicht wurden. In New Havanna war das anders; die meisten schienen dort nicht an Gott zu glauben. Paola hatte mir das bestätigt und ich nahm nicht an, dass sie dies im Auftrag der Regierung getan hatte. Wenn jemand in New Havanna an Gott glaubte, hatte das meist politische Gründe; sie glaubten dann, weil sie mit unserem theokratischen System ein besseres Leben verbanden. Wenn man die Qualität der jeweiligen gesellschaftlichen Systeme als Maß für die Güte der jeweiligen Argumentation für oder gegen Gott annahm, befand sich die Diskussion auf einem bescheidenen Niveau. Ich war geneigt, ein bisschen an Gott zu glauben, wenn ich einer Messdienerin, die mir die Kommunion verabreichte, in ihren tiefen Ausschnitt sehen durfte. Diese Argumente hatten allerdings auch keinen sonderlichen Tiefgang. Vermutlich glaubte ich nicht an Gott, weil ich mich gesellschaftlich nicht anpassen konnte; meine ganze Argumentation war nur vorgeschoben. Der Stich lag noch nicht so lange zurück; ich hatte Gottes Fratze gesehen, sie und die Macht, die sie ausdrückte, als Trugbild entlarvt. Die Argumente in meiner letzten Diskussion waren nicht schlecht. Vielleicht war es dem Pillencocktail zu verdanken, dass Paul nicht mitkam, den Schritt über seine Barriere nicht schaffte. Mit Gott konnte man die Welt nicht erklären, im Duo, Gott und die Welt, war alles noch viel mysteriöser, mochte Gott auch scheinbar ein bisschen Ordnung in die Welt bringen. Die Welt durfte man hinterfragen, und wenn man nicht weiterkam, nahm man Gott; Gott durfte man nicht hinterfragen. Mir schien, dass die Geisteskrankheit und der Götterglaube eine gemeinsame Wurzel hatten. Geisteskrankheit schien es zu jeder Zeit in der menschlichen Gesellschaft gegeben zu haben. Wahn, Rausch und Götterglauben bildeten ein Trio, das aus der menschlichen Kultur nicht wegzudenken war. Was ist eine vom Teufel besessene anderes als eine Wahnsinnige?. Religion war die zivilisatorische Zähmung des Wahns. Ein bisschen Wahn! So waren wir an diesem Flecken des Universums an einer heißen Stelle. Unsere Expedition würde mich vermutlich Gott ein bisschen näher bringen. Eine theokratische Gesellschaft in diesem Sonnensystem war vielleicht kein Zufall. Das, was sich auf Helenas Planeten verbarg, lag alles im Reich der Spekulation, aber ich war mir sicher, dort wäre ich Gott ein Stück näher. Der Stich hatte mich nicht zu einem
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