Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Brunetti hatte in seinem Beruf so viele falsche Tränen gesehen, dass er Tränen kaum mehr Glauben schenkte.
»Und was ist mit Gorini?«, fragte Paola.
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Der ist verschwunden. Wir haben Signorina Montinis Wohnung nach ihrem Tod durchsucht, aber da war keine Spur von ihm. Nichts.« Er ließ den Obstler in seinem Glas kreisen, trank aber nicht.
»Und jetzt?«, fragte Paola.
»Was wir unternehmen? Nichts, wie es aussieht. Er wird woanders hinziehen und eine andere leichtgläubige Frau finden, und leichtgläubige Opfer findet er sowieso überall.«
»Wie Vianellos Tante?«
»Anzunehmen«, sagte er. »Leute wie sie.«
Paola wechselte das Thema; von ihr aus konnten Vianellos Tante und Leute wie sie glauben, was sie wollten. »Und die Fulgonis?«, fragte sie.
Brunetti schnaufte und nahm einen kleinen Schluck Obstler. »Sie behauptet, sie sei auf den Hof gekommen, habe Fontana dort liegen sehen und sofort ihren Pullover ausgezogen, um damit die Blutung zu stoppen. Dann sei ihr Mann aus dem Lagerraum gekommen, und plötzlich habe sie begriffen, was sich da abgespielt habe. Darauf habe sie sich wieder in ihre Wohnung zurückgezogen, es aber nicht über sich gebracht, die Polizei zu rufen.«
»Und ihr Märchen von den Kirchenglocken? Das kann sie doch nur erzählt haben, um den Eindruck zu erwecken, dass er erst später in dieser Nacht ermordet wurde.«
»Sie sagt, das habe sich ihr Mann ausgedacht. Damit es so aussieht, als sei Fontana erst ermordet worden, nachdem sie beide längst nach oben gegangen waren. Wenn bei ihrer Rückkehr keine Leiche auf dem Hof lag und wenn es da schon nach Mitternacht war, blieb nur der Schluss übrig, dass Fontana erst später ermordet wurde.«
»Und warum hat sie dir dann überhaupt von dem Pullover erzählt?«
Darüber hatte Brunetti während der langen Zugfahrt nachgedacht. »Wer weiß? Vielleicht dachte sie, jemand könnte ihren Mann draußen gesehen haben, und hielt es für das Beste, der Polizei zu erzählen, er sei noch einmal losgegangen. Dann würde alles andere noch glaubwürdiger.«
»Du meinst, sie hat versucht, ihn zu schützen?«, fragte sie.
»Möglich. Zunächst jedenfalls«, sagte Brunetti.
»Und warum dann die Lüge, dass es sein Pullover gewesen sei?«
Brunetti zuckte die Schultern. »Auf dem falschen Fuß erwischt? Vielleicht wollte sie sich instinktiv von dem Verbrechen distanzieren, oder den Verdacht auf ihn lenken. Oder sie ist einfach eine schlechte Lügnerin.«
»Und was geschieht jetzt?«, fragte sie.
Brunetti stellte sein leeres Glas auf den Tisch, lehnte sich zurück und versank noch tiefer in dem Sofa. »Solange keiner von ihnen gesteht, wird gar nichts geschehen.«
»Und wenn es dabei bleibt?«
»Dann schleppt sich die Sache ewig hin, und die Anwälte reiben sich die Hände.«
»Habt ihr denn nichts, womit ihr einen der beiden überführen könnt?«, fragte Paola ebenso verwirrt wie aufgebracht.
Brunetti stand auf und ging wieder zum Kamin, er wollte noch nicht einschlafen, und er wollte die Wärme spüren. Wie seltsam, und doch wie wunderbar, fühlte sich die Hitze an seinen Beinen an. Er sah aus dem Fenster und zeigte auf einen vom Mond weiß beschienenen Hang. Unmöglich, die Entfernung abzuschätzen: Der Berg war weit weg und schien doch so nah. »Ist das der Ortler?«, fragte er.
»Ja.«
Er wandte sich von der Hitze ab und kam auf ihre Frage zurück. »Wir haben genügend Material, das auf beide zutrifft, um Anklage zu erheben, und genau das ist das Problem: dass es auf beide zutrifft.« Er stellte sich angewidert das unvermeidliche Medienspektakel vor: Blut und Tod und skandalöser Sex zwischen Vogelkäfigen. Der Fall bot alles und mehr, war ein gefundenes Fressen. »Aber so weit wird es nicht kommen.«
»Glaubst du ihm?«, fragte Paola.
Brunetti musste erst nachdenken. »Ich würde gern«, sagte er schließlich und fügte nach einer längeren Pause hinzu: »Und gleichzeitig macht es mir Angst.«
Paola wartete, bis sie sicher sein konnte, dass er fertig war, und sagte dann: »Gehen wir ins Bett.«
Später lag Brunetti wach und sah nach dem Ortler, der von ihrem Bett aus zu sehen war: Wie hell der Berg strahlte, rein und menschenleer.
»Mein Talisman«, sagte Brunetti, nahm seine Frau in die Arme und schlief ein.
Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
DONNA LEON, 1942 in New Jersey geboren, lebt seit 1981 in Venedig. Commissario Brunetti machte sie weltberühmt – man kann auf seinen
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