Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
hinein.
Brunetti hatte daran gedacht, sich die Schlüssel aus der Asservatenkammer zu besorgen, und zog sie aus der Tasche. Er probierte einige aus, bis er den richtigen gefunden hatte, entfernte das Schloss und öffnete die Tür. Es war kurz vor Mittag, die Sonne brannte senkrecht auf sie nieder, so dass kaum Licht in den Lagerraum fiel. Fulgoni griff hinein und knipste das Licht an.
Er ging an den Vogelkäfigen vorbei direkt zu den daneben gestapelten Kartons. Brunetti beobachtete, wie er die Aufschriften las, konnte sie aber selbst nicht lesen, weil Fulgoni ihm die Sicht versperrte. Schließlich zog er einen aus dem Stapel heraus, worauf die darüber in die Lücke stürzten. Er stellte ihn auf einen kleinen runden Tisch mit zerkratzter Oberfläche, den Brunetti bisher übersehen hatte. Fulgoni löste das vertrocknete alte Klebeband, mit dem der Karton verschlossen war, dann drehte er sich zu Brunetti um und sagte: »Vielleicht möchten Sie das selbst aufmachen, Commissario.«
Er schob sich an Fulgoni vorbei, schlug die ersten beiden Klappen zurück, dann die anderen zwei. Ganz oben lag ein grauer Rollkragenpullover.
»Ich finde, Sie sollten etwas tiefer graben, Commissario«, sagte Fulgoni mit einem trockenen Lachen, das vollkommen humorlos war.
Brunetti hob den Pullover an; darunter lag ein dicker blauer Pullover mit Reißverschluss. Und darunter ein leichter grüner Pullover mit V-Ausschnitt. »Nun, sehen Sie sich das Label an«, sagte Fulgoni, und im selben Augenblick erkannte Brunetti das Jaeger-Etikett.
Er legte die anderen Pullover zurück, klappte den Karton wieder zu und drehte sich zu Fulgoni um. »Soll das heißen, dass Sie nicht noch einmal losgegangen sind, um diesen Pullover zu suchen?«
»Dieser Karton wurde am Ende des Winters gepackt, Commissario«, sagte Fulgoni. »Folglich kann ich den Pullover an diesem Abend weder getragen noch verloren haben. Und folglich bin ich ihn auch nicht suchen gegangen.« Er warf den Pullover nachlässig auf den Kartonstapel, bückte sich und hob das trockene Klebeband vom Boden auf.
Er wickelte sich das braune Band um zwei Finger und sagte, ohne den Blick zu heben: »Meine Frau mag keine Unordnung. Alles muss an seinem Platz sein.« Er schob sich das zusammengerollte Band in die Tasche und sah Brunetti an. »Ich habe mich immer bemüht, ihre Wünsche zu respektieren.« Er wies auf die Vogelkäfige. »Die sind ein Beweis dafür. Wir haben keine Kinder bekommen, und so fing sie eines Tages an, sich Vögel anzuschaffen. Am Ende hatten wir das ganze Haus voll.« Er umspannte mit einer theatralischen Geste die leeren Käfige. »Aber dann starben sie oder wurden krank, und wir gaben sie weg. Na ja, nur die gesunden, natürlich.«
»Und die kranken?«, fragte Brunetti, der annahm, dass diese Frage von ihm erwartet wurde.
»Meine Frau hat sie beseitigt, wenn sie gestorben waren«, sagte Fulgoni und drehte sich zu Brunetti um. »Ich bin immer viel sentimentaler gewesen als meine Frau. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sie in den Topfpalmen auf dem Hof begraben.« Er machte eine vage Geste in Richtung der Tür. »Aber sie hat sie einfach in eine Plastiktüte gesteckt und in die Mülltonne getan.«
»Aber die Käfige haben Sie behalten?«, sagte Brunetti.
Fulgoni warf einen Blick in die Runde, er schien sich selbst zu wundern, dass es so viele waren. »Ja, die haben wir behalten. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum?«
Brunetti wusste auf diese Frage auch keine Antwort.
»Vielleicht hat meine Frau Vogelkäfige gern«, sagte Fulgoni und lächelte bekümmert. »So habe ich das noch nie betrachtet.« Er ging zu der Gittertür des Lagerraums, zog sie zu, klammerte sich an die senkrechten Stäbe und starrte auf den Hof hinaus. Schließlich wandte er sich zu Brunetti um und fragte: »Aber welche Seite ist der Käfig, was meinen Sie, Commissario? Hier drin oder da draußen?«
Brunetti verfügte über unendliche Geduld, und so schwieg er nur und wartete, dass Fulgoni weitersprach. Er hatte diesen Moment schon oft erlebt, es war der Moment, in dem sich etwas entwirrte oder kippte, der Moment, in dem ein Mensch zu dem Schluss kommt, dass er etwas klarstellen muss, und sei es nur sich selbst gegenüber.
Fulgoni legte die Fingerspitzen der rechten Hand an seine Lippen, wie zum Beweis dafür, wie tief er in Gedanken versunken sei. Als er die Finger wieder wegnahm, waren seine Lippen und das Kinn dunkelbraun verschmiert; Brunetti sah nach Fulgonis Händen, aber
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