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Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Titel: Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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verlassen, Signora? Vielleicht, um mal Luft zu schnappen? Oder um Wein aus Ihrem Vorratsraum zu holen?«
    Sie richtete sich auf und fragte schroff: »Wollen Sie andeuten, dass mein Mann etwas mit dem Tod dieses Mannes zu tun haben könnte?«
    »Selbstverständlich nicht, Signora«, log Brunetti kühl. »Aber er könnte doch irgendetwas Ungewöhnliches oder Auffälliges bemerkt und Ihnen davon erzählt haben, und dann hat er es vielleicht gleich wieder vergessen: Das Gedächtnis spielt einem ja manchmal seltsame Streiche.« Er beobachtete, wie sie diese Idee verarbeitete.
    Sie richtete den Blick auf eins der Bilder an der Wand gegenüber und betrachtete es so lange, bis sie sich seine streng horizontale Ausrichtung eingeprägt hatte; dann sah sie Brunetti an, presste die Lippen zusammen, schlug die Augen nieder, sah ihn wieder an und sagte mit betretener Miene: »Da war tatsächlich etwas…«
    »Ja, Signora?«
    »Der Pullover«, sagte sie, als müsse Brunetti wissen, wovon sie redete.
    »Was für ein Pullover, Signora?«, fragte er.
    »Ach«, sagte sie, als sei sie in Gedanken weit weg gewesen. »Natürlich. Der leichte grüne Pullover. Von Jaeger, mit V-Ausschnitt. Den hat er sich vor Jahren gekauft, im Urlaub, in London. Und dann hat er ihn sich draußen immer über die Schultern gehängt.« Und bevor Brunetti fragen konnte: »Ja, auch im Sommer.« Plötzlich wurde ihre Stimme weicher. »Der Pullover war so etwas wie ein Talisman für ihn, oder eher für uns beide, auf unseren abendlichen Spaziergängen.«
    »Und was ist nun mit diesem Pullover, Signora?«
    »Als wir an diesem Abend nach Hause kamen, entdeckte mein Mann, dass der Pullover nicht mehr über seinen Schultern hing.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust, tastete ihre eigenen Schultern ab und fand dort keinen Pullover. »Also ging er sofort nach unten, um ihn zu suchen. Es waren nicht viele Leute auf der Straße gewesen, wenn er ihn verloren hatte, konnte er ihn vielleicht noch finden.«
    »Verstehe«, sagte Brunetti. »Hat er ihn gefunden?«
    »Ja. Ja. Als er zurückkam, erzählte er, er habe am Fuß der Ponte Santa Caterina gelegen. Fast bei den Gesuiti.«
    »Er ist also die Route Ihres Spaziergangs zurückgegangen, Signora?«, fragte Brunetti und überschlug innerlich die Entfernung zwischen ihrem Haus und der Brücke.
    »Offensichtlich. Ich lag inzwischen im Bett und habe nur noch gefragt, ob er den Pullover gefunden habe, und kaum hatte er das bestätigt, bin ich gleich eingeschlafen.«
    »Verstehe, verstehe«, sagte Brunetti. »Erstaunlich, dass er das in seiner Aussage gegenüber Tenente Scarpa nicht erwähnt hat.«
    »Wie Sie selbst sagten, Commissario, das Gedächtnis spielt einem manchmal seltsame Streiche.« Er wollte es schon selbst sagen, aber sie kam ihm zuvor: »Seltsam ist aber auch, dass mir das erst jetzt wieder eingefallen ist.« Um das Merkwürdige dieser Sache noch hervorzuheben, legte sie eine Hand an ihre Stirn und schaute ihn wie unsicher an.
    »Was meinen Sie, wie lange war er weg, Signora?«, fragte Brunetti.
    Sie starrte wie jeder Venezianer ins Leere, während sie die Entfernung kalkulierte. »Bis zur Brücke hat er bestimmt fünfzehn Minuten gebraucht, denn er wird ja langsam gegangen sein. Also das Doppelte«, sagte sie, und als zweifelte sie an seiner Fähigkeit, die Addition ohne Hilfe zu bewerkstelligen, nannte sie ihm die Summe: »Eine halbe Stunde, höchstens.«
    »Ich danke Ihnen, Signora.« Brunetti erhob sich.
    Als Brunetti Signor Fulgonis Bank erreicht hatte, klebte ihm das Jackett am Rücken, und seine Hose scheuerte ihm bei jedem Schritt an den Schenkeln. Er betrat die klimatisierte Vorhalle, blieb erst einmal stehen und fuhr sich mit seinem Taschentuch über Gesicht und Nacken. Die künstliche Temperatur war zum Glück nur mild, nicht direkt arktisch, und Brunetti hatte sich bald darauf eingestellt. Er überquerte die weite Marmorfläche und näherte sich einem Schalter, der mit einer jungen Frau besetzt war. Ihr Kostüm sah aus wie neu. Als sie den derangierten Mann im zerknitterten Jackett erblickte, fragte sie mit schlecht verhohlener Geringschätzung: »Kann ich Ihnen helfen, Signore?« Sie sprach Italienisch, doch am Tonfall war ihre venezianische Herkunft durchzuhören.
    Brunetti zückte seine Brieftasche und zeigte seinen Dienstausweis. »Ich möchte Signor Fulgoni sprechen«, sagte er bewusst auf Venezianisch. Dann imitierte er den starken Akzent der Männer, mit denen sein Vater in den osterie von

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