Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
erklärt, nur wer da krank war, stand nicht dabei. Dieser nächste Termin am zwanzigsten Dezember schien nur dazu gedient zu haben, die Angelegenheit um weitere vier Monate zu verschleppen, diesmal mit der Anmerkung »Feiertage« in der letzten Spalte. Der neue Termin in der zweiten Aprilhälfte ließ Brunetti vermuten, er sei absichtlich in die Osterferien gelegt worden, doch zu seiner Überraschung war Richterin Coltellini zu der Verhandlung erschienen, jedoch nur, um einen neuen Termin – sieben Monate später – festzusetzen, »zwecks Anhörung neuer Zeugen«.
Brunetti fragte sich, woher in einem Prozess, der schon fast drei Jahre lang die Gerichte beschäftigte, plötzlich neue Zeugen auftauchen könnten – wobei »beschäftigen« wohl etwas übertrieben war. Kein Wunder, dass die Leute Angst hatten, in die Fänge dieses Kraken zu geraten: Abgesehen von einer schweren Erkrankung konnte einem in der Tat nichts Schlimmeres passieren, als in einen Prozess verwickelt zu werden.
Zu seiner abermaligen Überraschung hatte die Richterin den orangefarbenen Fall in weniger als einem Jahr abgeschlossen, während die mit Bleistift und rotem Kugelschreiber markierten Fälle sich wiederum zäh und mühsam dahinschleppten, beide seit über zwei Jahren.
Er suchte in seinem Schreibtisch nach dem Telefonverzeichnis und wählte schließlich die Nummer von Bruscas telefonino.
»Ja?«, fragte Brusca so ruhig, als sei er noch in Brunettis Büro. Brunetti kannte diese Seelenruhe an ihm seit dem Geschichtsunterricht in der scuola media. In all den Jahren hatte er nie erlebt, dass sein Freund sich über irgendein Verhalten überrascht gezeigt hätte, ganz gleich, wie niederträchtig es sein mochte; als Beamter der Stadtverwaltung war er wohl einiges gewohnt.
»Ich habe mir diese Papiere einmal genauer angesehen«, sagte Brunetti. »Hast du sie auch schon anderen gezeigt?«
»Wieso sollte ich?«, fragte Brusca, und plötzlich klang er so ernst wie Brunetti.
»Wenn das stimmt, sollte es unterbunden werden«, sagte Brunetti. Dass es absurd war, auf Bestrafung zu hoffen, war ihm bewusst.
»Ja, da hast du recht«, sagte Brusca, um einen Tonfall bemüht, als debattierten sie über die Qualität einer Fußballmannschaft und nicht über die Korruptheit der Justiz. »Aber das wird kaum möglich sein«, fügte er hinzu.
»Warum hast du mir das dann gegeben?« Brunetti war jetzt deutlich irritiert.
Brusca hüllte sich längere Zeit in Schweigen, bevor er sagte: »Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee, was man unternehmen könnte. Und ich hatte gehofft, du reagierst mit Empörung.«
»Das wäre zu viel gesagt«, sagte Brunetti.
»Na schön, na schön, also keine Empörung. Dann eben Hoffnung. Vielleicht ist es das, was ich an dir bewundere: dass du immer noch hoffen kannst, alles könnte sich zum Guten wenden und der Augiasstall ausgemistet werden.«
»Du sagst es selbst, das wird kaum möglich sein«, räumte Brunetti ein. Dann kam er, wieder freundschaftlich gestimmt, auf den ursprünglichen Zweck seines Anrufs zurück: »Also, warum hast du mir diese Papiere gegeben?«
»Ich hatte gehofft, du könntest was unternehmen«, wiederholte Brusca. Und in einem Tonfall, der Brunetti ein wenig zu unbekümmert vorkam, fügte er hinzu: »Außerdem ist es immer schön, wenn man einem von denen ein bisschen einheizen kann.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte Brunetti, auch wenn er sich wenig Chancen ausrechnete.
Brusca empfahl sich hastig.
Brunetti stützte den linken Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb sich mit dem Daumennagel über die Unterlippe. Das Hemd klebte ihm feucht unter den Armen und am Rücken. Er ging ans Fenster und sah auf den Kanal hinunter, das Wasser schwarz im grellen Tageslicht. Vom Campo San Lorenzo war alles Leben weggebrannt; sogar die Katzen, die sonst das vor der Kirchenmauer eingerichtete Katzendomizil bevölkerten, waren verschwunden; er fragte sich, ob sie die Stadt verlassen hatten, um Ferien zu machen.
Er geriet ins Träumen und dachte an Katzen, die Urlaub in den Bergen machten oder am Meer, verschickt vom Tierschutzverein. Brunetti hasste die »animalisti«, hasste sie, weil sie sich für die ekelhaften, von Krankheitskeimen verseuchten Tauben einsetzten, hasste sie, weil sie sämtliche streunenden Katzen der Stadt versorgten – zum Entzücken der ständig wachsenden Rattenpopulation. Und wo er schon mal bei Tieren war, fügte er seiner Liste von Leuten, die er hasste, auch noch
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