Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
es Prosciutto und Feigen und danach Pasta mit frischer Paprika und Shrimps.«
»Zwanzig«, sagte er und legte auf.
An einem heißen Tag so schnell zu Fuß gehen, das würde ihn umbringen, also lief er zur riva und hatte Glück, gleich in eine Nummer zwei einsteigen zu können. Bei San Tomà erwischte er eine Nummer eins, die zwei Minuten später ablegte, und bei San Silvestro stieg er aus. Die Fahrt hatte länger gedauert als ein Fußmarsch, aber dafür war es ihm erspart geblieben, mitten am Tag quer durch die Stadt zu laufen.
Paola und die Kinder saßen am Küchentisch: Die Terrasse war tagsüber ein Backofen und konnte nur nach Sonnenuntergang benutzt werden. Brunetti hängte sein Jackett auf – er hatte noch kurz überlegt, ob er es vorher auswringen sollte –, und setzte sich an den Tisch.
Er sah in die Gesichter und fragte sich, ob die Apathie, die er darin erblickte, eine Folge seines Verhaltens gestern bei der Urlaubsplanung war. Oder war es nur die Hitze? »Wie hast du den Vormittag verbracht?«, fragte er Chiara.
»Ich war bei Livia und habe ein paar von den Teilen anprobiert, die sie fürs neue Schuljahr bekommen hat«, antwortete seine Tochter, während sie sorgfältig den Fettrand von ihrem prosciutto abtrennte und ihn auf Raffis Teller legte; offenbar war sie zu dem Schluss gekommen, dass Vegetarier nur das Fett nicht essen dürfen, das Schinkenfleisch aber schon.
»Herbstsachen? Jetzt schon?«, fragte Paola und stellte einen Teller mit prosciutto und schwarzen Feigen vor Brunetti hin. Dabei legte sie ihm eine Hand auf die Schulter, so dass er annehmen durfte, wenigstens ein Mitglied der Familie freue sich auf die Ferien.
»Ja«, sagte Chiara, den Mund voll Feigen. »Als wir letzte Woche ihre Schwester in Mailand besucht haben – Marisa, sie studiert an der Bocconi –, sind die beiden mit mir shoppen gegangen. Die Sachen sind dort viel besser als das Zeug hier bei uns. Hier gibt’s nur was für Teenies oder alte Frauen.«
Da fuhr seine Tochter nach Mailand, dachte Brunetti, in die Stadt, wo man das Brera-Museum, Leonardos Letztes Abendmahl und den größten gotischen Dom Italiens besichtigen konnte – und was tat sie dort? Shoppen. »Hast du was für dich gefunden?«, fragte er und aß eine halbe Feige. Chiara mochte eine Kulturbanausin sein, aber die Feige war der Gipfel der Vollkommenheit.
» No, papà, habe ich nicht«, sagte sie mit tragischem Tonfall. »Alles wahnsinnig teuer.« Sie schnitt ein weiteres Stück Schinken zurecht und beförderte den Fettrand auf der Messerspitze zu Raffi hinüber, der nur mit seinem Essen beschäftigt war und sich offensichtlich nicht für Einkaufsgeschichten interessierte.
»Ich hatte mein eigenes Geld mitgenommen, aber mamma wäre durchgedreht, wenn ich zweihundert Euro für eine Jeans ausgegeben hätte.«
Paola sah von ihrem Antipasto auf. »Nein, ich wäre nicht durchgedreht, aber ich hätte dich für den Rest des Sommers in ein Arbeitslager geschickt.«
»Wie sollen wir aus der Finanzkrise rauskommen, wenn kein Mensch Geld ausgibt?«, wollte Chiara wissen, ein klarer Beweis dafür, dass sie einen Tag in Gesellschaft einer Studentin an Italiens bester Wirtschaftshochschule verbracht hatte.
»Dadurch, dass wir fleißig arbeiten und unsere Steuern zahlen«, sagte Raffi und zeigte Brunetti damit, dass er dem Marxismus endgültig abgeschworen hatte.
»Wenn es nur so einfach wäre«, sagte Paola.
»Wie meinst du das?«, fragte Raffi.
»Um fleißig zu arbeiten, braucht man einen Job«, erklärte seine Mutter und lächelte ihn über den Tisch hinweg an. »Richtig?« Raffi nickte. »Und um Steuern zu zahlen, braucht man ebenfalls einen Job. Oder einen eigenen Betrieb.«
»Ja, sicher«, sagte Raffi. »Das weiß doch jeder Idiot.«
»Und wie findet man einen Job?«, fragte Paola und kam seiner Antwort zuvor: »Wenn man niemanden kennt oder keinen Anwalt oder Notar zum Vater hat, der einem einen Job verschafft, sobald man mit dem Studium fertig ist?« Wieder ließ sie ihren Sohn nicht zu Wort kommen. »Denk an die älteren Brüder und Schwestern deiner Schulfreunde. Wie viele von ihnen haben einen anständigen Job gefunden? Alle haben sie exquisite Abschlüsse in irgendwelchen exquisiten Fächern gemacht, und alle hocken sie jetzt zu Hause und leben vom Geld ihrer Eltern.« Und bevor ihr Sohn ihr Gefühllosigkeit vorwerfen konnte, sagte sie noch: »Nicht unbedingt, weil sie das wollen, sondern, weil es keine Arbeit für sie gibt. Wenn sie Glück
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