Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
haben, kriegen sie irgendwas zeitlich Befristetes, aber sobald sie fest angestellt werden müssten, werden sie entlassen, und der Nächste wird für sechs Monate angeheuert.«
Großer Gott, dachte Brunetti, wer redete da wie ein Marxist? »Und wie soll man dann einen festen Job bekommen und Steuern zahlen?«, erkundigte er sich freundlich.
Paola holte Luft, beschloss dann aber, das Thema fallen zu lassen. »Ich glaube, das Essen ist fertig«, sagte sie. Und hatte recht: Die Paprika erinnerte ihn in ihrer Süße und Konsistenz an die Feigen. Die Familie, besänftigt von den Freuden des Essens, verbrachte den Rest der Mahlzeit in friedlicher Erörterung der Frage, was man in den Bergen unternehmen könnte.
Nach dem Essen saß Brunetti auf dem Sofa und blätterte im Gazzettino herum, aber die leicht verdaulichen Sätze dieser Zeitung halfen ihm auch nicht über das diffuse Unbehagen hinweg, das ihn nach Paolas auffälligem Themenwechsel befallen hatte. Rückzug war keine Taktik, die er von ihr gewohnt war.
Sie kam mit dem Kaffee, reichte ihm eine Tasse und setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel. Sie legte ihre Füße auf den Couchtisch und nahm einen Schluck. »Sollte ich noch jemals irgendwann in meinem Leben sagen, wie schön es ist, in der obersten Etage zu wohnen, unterm Dach: Würdest du mich dann bitte in den Backofen stecken und so lange schmoren lassen, bis ich zur Vernunft gekommen bin?«
»Wir könnten uns eine Klimaanlage anschaffen«, sagte er, um sie zu provozieren.
»Damit Chiara auszieht?«, fragte sie. »Auf das Thema reagiert sie allergisch. Der Vater einer Freundin von ihr hat eine einbauen lassen, und seitdem weigert Chiara sich, das Haus zu betreten.«
»Meinst du, wir haben sie zur Fanatikerin gemacht?«, fragte Brunetti.
Paola trank ihren Kaffee aus und stellte Tasse und Untertasse ab. Nach einiger Zeit sagte sie: »Wenn sie schon Fanatikerin sein muss, dann lieber in Sachen Ökologie als wegen irgendwas anderem.«
»Aber findest du ihre Reaktion nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte Brunetti.
Paola zuckte die Schultern. »So mag es uns heute erscheinen, im Hier und Jetzt. Aber in zehn oder zwanzig Jahren sieht die Sache vielleicht ganz anders aus, und wir blicken auf die Exzesse unseres Lebens zurück und erkennen, wie verbrecherisch sie waren.« Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück.
»Und dann wird sie als Prophetin gelten und nicht mehr als Fanatikerin?«
»Wer weiß?«, sagte Paola mit geschlossenen Augen. »Oft läuft das auf dasselbe hinaus.«
»Warum hast du das Thema gewechselt?«, fragte er.
»Arbeit und Steuern?«, fragte sie.
Er betrachtete ihr Gesicht. Mehr als zwanzig Jahre waren vergangen, seit er sie kennengelernt hatte, aber für ihn war sie nicht gealtert. Eigenwilliges blondes Haar, eine Nase, die für das weibliche Schönheitsideal dieser Epoche vielleicht etwas zu groß war, die Wangenknochen, die seine ersten Küsse angelockt hatten. Er antwortete mit einem Brummen.
»Ich wollte einfach nicht über Steuern debattieren«, sagte sie schließlich.
»Warum?«
»Weil ich finde, dass wir verrückt sind, überhaupt noch welche zu zahlen. Wenn ich könnte, würde ich damit aufhören.«
Aus langjähriger Erfahrung fragte er: »Ist das eine rhetorische Übertreibung?«
Sie machte die Augen auf und lächelte ihm zu. »Wahrscheinlich. Aber vor ein paar Tagen habe ich zu meiner Überraschung festgestellt, dass ich manches von dem, was die Lega sagt – genau die Sprüche, über die ich mich vor zehn Jahren fürchterlich aufgeregt habe –, inzwischen gar nicht mehr so unvernünftig finde.«
»Wir werden wie unsere Eltern«, sagte Brunetti – eine Bemerkung, die seine Mutter oft gemacht hatte. »Was für Sprüche?«
»Dass unser Steuergeld in den Süden geht und dort auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Dass der Norden fleißig arbeitet und seine Steuern bezahlt und nur sehr wenig dafür bekommt. Dass der Vatikan uns predigt, den Einwanderern gegenüber großzügig zu sein, aber selbst keine aufnimmt.«
»Wirst du als Nächstes verlangen, dass man zwischen dem Norden und dem Süden eine Mauer errichtet?«, fragte er.
Sie lachte auf. »Natürlich nicht. Ich wollte bloß nicht so vor den Kindern reden.«
»Du meinst, die ahnen nichts davon?«
»Natürlich ahnen sie etwas«, sagte Paola. »Sie entnehmen es dem, wie wir oder die Eltern ihrer Freunde sich verhalten.«
»Zum Beispiel?«
»Dass wir, wenn wir in einem Restaurant essen, mit dessen
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