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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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ganze Familie für den Schaden haften? Fällt die Schande nicht auf die ganze Familie zurück? Sie können sich von diesem schwarzen Schaf distanzieren. Aber er bleibt Ihr Anverwandter. Und Sie werden sich selbst fragen lassen müssen: Wie konnte es dazu kommen? Wo hätte man ihm Einhalt gebieten, ihn auf den rechten Weg weisen müssen? Wo und wann wurden die Weichen für seinen Irrweg gestellt? Versuchen Sie doch einmal, diese Fragen auf die politische Ebene zu übertragen.«
    Bei dem schwarzen Schaf hatte ich gleich an Onkel Josef, den Säufer, gedacht und wie die Familie sich überhaupt nicht fragte, warum der armselige Mensch so viel trinke. Im Gegenteil. Suffkopp Jupp erlaubte dem nüchternen Teil der Familie, sich nach Art der Pharisäer selbst zu erhöhen: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie jener.
    Ja, bestätigte Rebmann meine Bedenken - natürlich ließ ich dabei den armen Onkel aus dem Spiel -, diesen Eindruck könne man durchaus haben, wenn man die Berichterstattung in Presse und Fernsehen verfolge. Als sei das Nazireich von einer Handvoll Mördern den Deutschen aufgezwungen worden, einzelnen Verbrechern, die ihrer Strafe zugeführt werden müssten, wie jeder andere Verbrecher auch. Wir sollten uns aber einmal überlegen, was vorher wohl geschehen sei, damit diese Schurken sich auf Befehle berufen und ihre Unmenschlichkeit als brave Pflichterfüllung darstellen konnten.
    »Aber sie hatten doch diese Befehle«, beharrte Clas.
    »Befehle!«, fuhr Astrid ihn an. »Was sind das für Befehle, die einfach nur mörderisch sind!«

    Und ich dachte an die Großmutter und ihr schlichtes Bekenntnis: »Man muss Jott mehr jehorschen als den Menschen.«
    Zu Hause schlug die Mutter die Hände vors Gesicht. Wollte nichts wissen von Kaduks Bergsteigerstock, mit dem er seine Opfer erdrosselte, von Bogers »Schaukel«, Hofmanns »Sportmachen«, Klehrs tödlichen »medizinischen Heilkünsten«. Was hier geschehen war, hatte nichts mit den täglichen Raub- und Sexualmorden, Naturkatastrophen, Unfällen zu tun. Diese Hölle überstieg die mütterliche Vorstellungskraft. Und nicht nur ihre.
    Und dann immer wieder diese Gesichter der Angeklagten: Wie Gesichter von Berühmtheiten prägten sie sich schließlich ein. Dabei war nichts Auffälliges an ihnen. Im Gegenteil: gepflegt, wohlgenährt, bieder. Das war am schlimmsten. Sahen sie nicht aus wie jedermann? Dieses Lächeln, das die Gesichter manchmal so menschlich machte. Es machte aus »Teufeln«, »Bestien«, »Raubtieren« Männer, wie sie mit mir in den Bus stiegen, mir auf der Straße begegneten, im Klassenzimmer vor mir standen. Ich forschte in ihren Gesichtern: Und Sie? Waren Sie dabei? Wo waren Sie? Waren sie nicht allesamt geduldige Zeugen der Verbrechen gewesen? Von Auschwitz hatten die meisten vielleicht nichts gewusst. Aber dass Juden, Kommunisten, Sozialisten abgeholt wurden, verschwanden, das wusste jeder.
    Sogar in Dondorf, Altstraße 2. Jeder kannte die Geschichte vom Pastor Böhm, der in Dachau umgekommen war; wusste, dass Beilschlag, heute Postbote, damals SA-Mann, die Dondorfer schikaniert hatte. Lenchen Herz, Jüdin, katholisch getauft wie ihre Eltern und Großeltern, war eine Freundin der Mutter gewesen. Nie hatte ich die Mutter nach Lenchen gefragt.
    »Fragen Sie«, gab Rebmann am Ende des Jahres als große Hausarbeit auf - groß, weil wir uns damit bis Ostern, zum Ende des Schuljahres, Zeit lassen konnten -, »fragen Sie Ihre Eltern und Verwandten, fragen Sie alle, die Sie kennen, nach jüdischen Mitbürgern im Dritten Reich, und dokumentieren Sie die Antworten.«

    Ich saß mit Mutter und Großmutter nach dem Sonntagsessen noch am Küchentisch. Der Vater hatte ein Gespräch über den gestrigen Fernsehbericht brüsk abgeschnitten. »Wenn de wisse wills, wat isch vun dene halt, lur dir dat Deng an, met dem isch dä Driss aus dä Jauchejrube scheppe!« 38 Hatte den Stuhl zurückgestoßen und war mit den Worten »Dat waren doch all Verbrescher. Aber usserens hat doch vun Auschwitz nix jewoss. Mir sin doch ken Verbrescher!« in seinem Schuppen verschwunden.
    »Dä Papa hat rescht«, sagte die Mutter. »Sojar die do hätt eine verstopp 39 !« Die Mutter ruckte ihr Kinn vage in Richtung ihrer Mutter, die uns den Rücken zukehrte, Herdringe und Töpfe verschob, mit der langsamen, aber sicheren Kraft einer alten Frau. Die Oma? Bertram, schon auf dem Weg nach draußen, machte die Tür noch einmal zu. Die Oma hatte Juden versteckt?
    »Zwei andere waren bei

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