Aufbruch - Roman
auch, dat war viel zu jefährlisch.«
»Jefährlisch, jefährlisch«, äffte die Großmutter. »Un wenn ald! Isch konnt dä Jong doch do nit lieje lasse!« Und dann, sich aufrichtend: »Man muss Jott mehr jehorschen als den Menschen! Un wer dat war? Isch weiß et nit. Einer von de Polen vom Krötz. Dä Pastur, der Böhm, hat auch jesacht, wer dat es, dat spielt keine Roll. Isch möscht nur hoffe, dat der nit dabei war, wie se
den alte Krötz dutjehaue hann, de Pole. Aber da war der Jong schon weg. Dä Tadeusz.«
»Jojo«, seufzte die Mutter, noch immer unversöhnt, und faltete die Hände über der Kittelschürze. »Aber dat Käälsche hie«, sie klopfte auf ihren Bauch, »dat war auch weg. Euer Brüdersche.«
»Als wenn do dä Tadeusz wat dafür könnt!« Die Großmutter goss sich mit fester Hand noch einmal ein und blickte vom Wachstuch auf die durchbohrten Füße Jesu am Kreuz des Großvaters über unseren Köpfen. »Dat verdanks de däm Böschtekopp, däm Hitler. Die Bombe kamen von de Amis, rischtisch, aber die Amis kamen wejen däm Verbrescher. Die wäre auch lieber ze Haus jebliebe. Un du sälver«, ging die Großmutter nun zum Gegenangriff über, »has doch bis zum Schluss de Herzens und de Nimmerszeins morjens de Brötschen durch dat Fenster jeschmisse.«
»Was hast du gemacht?«, fragte ich entgeistert.
»Jo, et is wahr«, druckste die Mutter. »Wenn ich morjens die Brötschen ausjefahren hab, hab isch denen ihre Brötschen noch immer jebracht, wenn die schon keine mehr kriejen durften.«
»Jeklaut hat se die!«, triumphierte die Großmutter. »Direk vom Blesch!«
Die Mutter duckte sich und sah mich unsicher an.
»Mama«, sagte ich, wäre gern aufgestanden und hätte die kleine, harte Frau in die Arme genommen, aber das wagte ich nicht, das wagte sie nicht, schon so lange hatten wir beide das nicht getan.
»Mama«, sagte ich, »da muss de disch doch nit für schäme. Das war jut. Das war richtig jut. Mutisch!«
Die Mutter sah mich an. In ihren Zügen Zweifel und, ja, auch ein bisschen Stolz. »Ach wat: Mutisch, et war doch nur wejen dem Lenschen. Dat war doch meine beste Freundin. Un dann, et war ja alles umsonst. Sie haben et abjeholt wie all die anderen.«
Die Mutter schlug die Hände vors Gesicht. »Un dann die Bilder im Fernsehen. Wenn isch mir vorstell … dat hat doch keiner jewusst. So wat konnt man sisch doch nit vorstelle.«
Zorniges Schluchzen schüttelte den Körper der Mutter, die plötzlich aufsprang, die Faust ballte und unter Tränen hervorstieß: »De Dräckskääls! De Düwele. Ophange soll mer die! Ophange!«
»Jo, Kenk«, die Großmutter legte der Tochter die Hand auf die Schulter, eine Geste, die ich von ihr noch nie gesehen hatte, und stellte die Klosterfrau-Flasche wieder ins Vertiko. »Jut, dat se en paar von denen jetzt an de Hammelbein haben. Un dann ab hinter Schloss und Riejel.«
Die Mutter wischte sich mit einem Zipfel des Kittels übers Gesicht, die Großmutter machte sich wieder am Herd zu schaffen, ließ die Herdringe klirren , läutete den Alltag ein, aus dem uns das Herauferzählen der Vergangenheit so weit entrückt und einander so nah gebracht hatte wie seit Jahren nicht.
Und dann inspizierten Bertram und ich den Jaucheheber, mit dem der Vater alljährlich im März den Inhalt der Senkgrube als Dünger im Garten verteilte. Das Gerät machte einen soliden Eindruck. Es hielt ja auch schon beinah zwanzig Jahre. Der Vater hatte den Schüppenstiel mit einem Stahlhelm verschraubt.
Schon nach wenigen Tagen meldeten Clas und Alois, sie hätten in Familie, Verwandtschaft und Bekanntschaft mit ihren Befragungen begonnen: Niemand habe im Dritten Reich Juden gekannt oder mit ihnen zu tun gehabt.
Rebmann strich über den Stoff seines leeren Jackenärmels und legte einen Finger an die Nase: »Nun, dann wollen wir das Thema der Jahresarbeit erweitern: Fragen Sie einfach danach, wie Ihre Eltern, Großeltern, Verwandten - egal, wen immer Sie fragen wollen, fragen Sie: Wie hast du diese Zeit erlebt? Wie hast du in dieser Zeit gelebt? Erzähl mir von dir! Und bedenken Sie: Sie wollen etwas wissen. Fakten sammeln. Widersprechen
Sie nicht. Versuchen Sie zu sehen, zu hören, zu begreifen wie ein Forscher in einem fremden Land. Oder stellen Sie sich vor, Sie sind so etwas wie ein Tonbandgerät. Ein Zuhörapparat.«
Im Holzstall legte ich eine Namensliste an. Sie wurde immer länger. Einige schied ich von vornherein aus. Sie hielten es mit Tante Berta, die nach ihrer
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