Aufbruch - Roman
dä Schwestern im Krankenhaus«, knurrte die Großmutter und ließ die Herdringe ineinanderfallen. Kehrte uns den Rücken zu, als hätte sie noch immer etwas zu verbergen. Diesen schmalen, von Alter und Arbeit gekrümmten Rücken in der schwarzen, selbstgestrickten Jacke, die sie sommers wie winters trug, mal über einem schwarzen Baumwollkleid, mal über einem schwarzen Wollkleid, beide von oben bis unten zum Knöpfen. Als ihr einmal beim Anziehen der Kopf partout nicht durchs Halsloch rutschen wollte, hatte sie ihren neuen Sonntagsstaat vom Kragen bis zum Saum aufgeschlitzt. Diesen verschossenen Strickjackenrücken kehrte uns die Großmutter zu, als die Mutter weitersprach: »Die hätt uns all en der Dud schicke künne. Wenn dat dä Beilschlag rusjekresch hätt.« 40 Noch nach all den Jahren malte sich Angst und Unverständnis in die Züge der Mutter.
»Et Julchen hat et auch jewusst un de Muul jehalte«, murrte es vom Herd. Aber im besten Hochdeutsch, das die Großmutter sonst nur für Kirche und Kirchenmänner hervorholte: »Dä lag do im Jraben an der Jroßenfelder Chaussee, direk am Kirschhof. Half dut jehaue. Sollt isch den da liejen lasse? Hättst du dat jetan? Ja, et is wahr! Isch bin heim und hab dä ärme Kääl mit dem Opa, den konnten sie nit ens mehr beim Volkssturm jebrauchen, met däm Opa hab isch den hierherjeholt, mit der Schubkarr unter en paar Säck. Jesehen hat uns keiner, et war ja in der Verdunkelung un kein Mensch auf der Straß. Schwer war dat, dä Jong auf der Leiter nach oben ze bugsiere. Nur noch Haut un Knoche, aber lang. Eijentlisch ne staatse Jong 41 .« Die Großmutter nickte ein paarmal der Herdplatte zu. »Nur jut, dat mir dat Schwein schon jeschlachtet hatten, sonst wär dat auch noch dazwischen jekommen.«
Ich konnte den Blick vom Rücken der Großmutter kaum lösen. Mit jedem Satz rebellischer erschien mir dieser Perlmusterstrickrücken, Anna Rüppli mit dem Rücken zu uns, mit dem Rücken zur Welt, so, wie sie damals der Welt den Rücken gekehrt, ihren zähen rechtschaffenen Rücken, und sich dem Jungen im Graben an der Chaussee zugewandt hatte.
»Ävver dann hatte mir den da oben, lag ja noch jenug Stroh, un dann hab isch ihn ja auch versorscht.« Die Großmutter löste ihre Hände von der Herdstange und drehte sich um. Ihr rundes Gesicht glänzte vor Hitze, rot glühten die Bäckchen, die grauen Augen blitzten. Wie eine Legende erzählte das Gesicht der Großmutter, was sie sich im Leben Stückchen für Stückchen aufgebaut hatte. Acht Kinder geboren, davon fünf überlebt. Ein Haus gebaut und Bäume gepflanzt. Die Hungrigen gespeist und die Kranken besucht. Die Trauernden getröstet. Die Nackten bekleidet. Die Durstigen getränkt. Die Fremden beherbergt. Das Gesicht der Großmutter erzählte von Liebe und Respekt. Sie hatte sich ihre Schätze im Himmel auf Erden redlich erworben.
»Versorsch hab isch den. Bettzeusch un so. Jewaschen und verbunden. Da kam er widder zu sisch. Beim Waschen. Dat tat weh. Se hatten den ordentlisch vermöbelt. Aber isch wusste, wat dä brauchte.«
»Klosterfrau Melissengeist!«, kam es wie aus einem Munde von Bertram und mir.
»Jenau!«, nickte die Großmutter. »Un den brauch isch jetzt auch.« Die Mutter sprang auf, stellte zwei Gläschen auf den Tisch.
»Nu jib auch dä Kenger eins«, drängte die Großmutter. »Den brauche mir jetzt all.« Die Großmutter schnalzte und schenkte sich nach. »Un dä Jong damals, dä brauchte den noch mehr.«
»Aber an misch has de dabei nit jedacht!«, wagte die Mutter, ermutigt vom Geist der Klosterfrauen, noch einmal zu protestieren, und schaute hilfesuchend zum Bruder. »Dat wisst ihr ja jar nit, du auch nit, Hilla, dat ihr eigentlisch en Brüderschen hättet. Isch war da im sechsten Monat. Un dann …«
»Isch wollt dä Mama doch jar nix sagen«, fiel ihr die Großmutter ins Wort. »Aber sie hat ja jemerkt, wie für de Opa, sie und misch dat Essen immer knapper wurde. Un dann hat se misch erwischt, wie isch mit Kartoffele in dä leere Schweinestall bin.«
»Wo war denn dä Papa?«, wollte Bertram wissen.
»Dä war doch beim Volkssturm«, erwiderte die Mutter. »Dat letzte Aufjebot. Dä mit seinem Bein konnt doch nit marschiere. Dä wor jo dann en der Jefangenschaft. Bei de Amis.«
»Und wer war das, da oben im Stall?«, forschte ich. »Das war doch wirklich gefährlich.« Ich schaute die Großmutter an, als hätte ich sie noch nie gesehen.
»Siehs de«, trumpfte die Mutter auf, »dat Hilla sacht
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