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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Einfach?
    »Aber das war ja nur das eine«, fuhr Mohren fort. »Das Öffentliche. Da veranstalteten die Nazis ein unerträgliches Getöse. Da wurde die Bevölkerung mit einer Flut von Wörtern überschwemmt, da pflasterte man die Menschen mit Parolen zu, um sie zu begeistern und andere Meinungen im Lärm der Wörter zu ersticken. Neben diesem Wortschwall wurde höchstens das Schweigen geduldet. Weißt du«, Mohren machte eine Pause und suchte meinen Blick, »der Nazistaat hatte Angst vor dem Wort. Dem freien Wort. Wie jede Diktatur. Das freie Wort. So groß war ihre Angst, dass sie es ›heimtückisch‹ nannten und ›zersetzend‹. Angst, das freie Wort könnte ihre Allmacht als Schein entzaubern, also musste es zum Verbrechen erklärt
werden. Die Furcht der Machthaber vor der Wahrheit durfte nicht sichtbar, nicht hörbar werden. Und daher musste denen Angst gemacht werden, vor denen man selbst Angst hatte: Den eigenen ›Volksgenossen‹.« Mohren sprach die Anführungszeichen durch einen Lippenfurz hörbar mit. »Wörter konnten zu Delikten gemacht werden. Die Bevölkerung musste Angst kriegen vor dem freien Wort. Jaja, ein Mann wie Goebbels wusste Bescheid. Wer die Herrschaft über das Wort hat, hat die Herrschaft über die Menschen. Die Furcht vor dem freien Wort war ein Eckpfeiler des Nazistaates. Natürlich jeder Diktatur. Um eine vollständige Kontrolle des Sprechens und Denkens ging es ihnen. Und so wurde den Menschen Angst gemacht vor den Worten. Der Einzelne lernte, sein Sprechen zu kontrollieren, seine eigenen Wörter. Aber er musste auch Angst haben vor den Worten anderer, die seine Worte, seine Bemerkungen eventuell meldeten. Angst vor den eigenen Worten und den Worten anderer: So wurden die deutschen ›Volksgenossen‹ diszipliniert. Dass nun Wörter auch im privaten Leben gefährlich werden konnten, das war noch schlimmer als das öffentliche Wortgetöse.« Mohren war wieder leise geworden. »Den Presseverboten folgte nämlich schon im März’33 eine Notverordnung, die sogenannte Heimtücke-Verordnung, die immer weiter ausgedehnt wurde, bis aus der Verordnung ein Gesetz wurde. Kannst du dir vorstellen«, Mohrens Stimme war nun kaum noch hörbar, ich musste ihm fast von den Lippen lesen, »dass jede spontane Äußerung, auch wenn man nur mal seinem Ärger Luft machte oder über einen Nazi spöttelte, bestraft wurde? ›Miesmacher‹, ›Nörgler‹, ›Abweichler‹ hieß das. Später, im Krieg, konnte so was sogar als Unterstützung des Feindes, als ›Wehrkraftzersetzung‹, mit dem Tode bestraft werden.«
    Mohren schwieg. Ich fixierte den Napfkuchen auf meinem Teller, den Abdruck der Zähne von meinem ersten und einzigen Biss. Immer wieder hatte ich mir in den letzten Wochen die Frage gestellt, wie mutig denn ich gewesen wäre in dieser Zeit. Meinen Sokrates wieder hervorgeholt. Furchtlos das freie
Wort. Gern hätte ich mich mit Widerstandskraft geadelt; ich wagte es nicht. Nur für eines glaubte ich, die Hand ins Feuer legen zu können: Jemanden verraten, einfach so, das hätte ich nicht getan. Nicht einmal Frau Wachtel, die Wagenstein? Sigismund? Den Schulzahnarzt? Nein, entschied ich, nicht einmal die. Was mochte in den Männern und Frauen vorgegangen sein, die Arbeitskameraden, Nachbarn, Bekannte, ja, Familienmitglieder denunzierten?
    Als hätte er meinen Gedankengang erraten, nahm Mohren den Faden wieder auf: »Warum? Ja, warum? Sie hatten immer ihren Grund. Rache. Geltungssucht. Politik war selten im Spiel. Aber eines wussten sie alle: Dass sie anderen schadeten, und das wollten sie auch. Sie mussten ja noch nicht einmal dazu stehen. Anonyme Anzeige genügte.«
    Wieder verbarg Mohren sein Gesicht in den Händen, fuhr sich durchs Haar, rückte sich gerade und blickte auf die Wand über dem Sofa, als läse er dort ab. »Da war dieser kleine, freche Kerl im Seminar, der sich im Karneval gern mal als Tünnes verkleidete. Hilfskraft bei Philosophen-Krause, so nannten wir den Professor. Kein Parteimitglied, aber eine Kapazität auf seinem Gebiet. Seinen Nazikollegen ein Dorn im Auge. Und die Stellen als Hilfskraft waren bei uns Studenten begehrt. Der kleine Freche hatte ein loses Maul, das wusste jeder. Auch, dass er sich den Mund nicht verbieten ließ. Das ging gut, bis die Deutschen in Holland einmarschierten. ›Da machen die jetzt die Schleusen auf, und alle ersaufen‹, war sein Kommentar. Das genügte. Mitten im Seminar zu Aristoteles’ Ästhetik holten sie ihn ab, ganz so, wie auf den

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