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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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den Augenwinkeln.
    »Aber«, wagte ich nun zögernd einzugreifen, »was hast du denn in der Zeit erlebt? Warst du auch im BDM? Vielleicht mit der Alma?«
    »Ich.« Sagte Friedel, ohne Frage- oder Ausrufezeichen. Ich. So, wie man Stuhl sagt oder Tisch. Griff nach einer neuen Zigarette, hielt sie zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger in der Schwebe und legte sie auf den Teller neben den kaum berührten Kuchen. Ich. Friedel fuhr sich über die Stirn, schaute in ihre Hand, als könne sie dort einen Zugang finden zum Friedel-Ich im Dritten Reich.
    »Ja«, begann sie stockend, »im BDM war ich auch. Aber in der Großenfelder Gruppe. Ich ging da auf die Mittelschule, wie du. Mein Vater war ja, bis der Grütering kam, noch Bürgermeister. Da musste ich da rein, besonders, weil mein Vater nicht in die Partei gehen wollte. Und auch nicht gegangen ist. Das weißt du ja. Aber«, Friedel lachte auf, »da fällt mir ein: Weißt du, wie der BDM, dieser Bund Deutscher Mädel, damals verspottet wurde? Die Mader hat dir doch sicher viel von ›Rein bleiben und reif werden‹ und so erzählt. Von wegen. BDM, das hieß: ›Bald Deutsche Mutter‹; ›Bubi drück mich‹; ›Bedarfsartikel Deutscher Männer‹; ›Brauch Deutsche Mädel‹. Und wenn eine Straße kaputt war, hieß die ›BDM-Straße‹ - Loch an Loch. Naja. Aber im Ernst. Der BDM, das war nichts für mich. Nichts als Zwang. Viele empfanden das wohl als Geborgenheit, als Halt. Hier konnte man sich wichtig fühlen, kompetent, Einfluss haben. Ich hab mich gedrückt, wo ich konnte. Alles war ja bei denen organisiert und durchgeplant. Sogar das Sprechen. Wenn ich noch an die Sprechchöre denke. Gibt’s so was heute überhaupt
noch? Damals machte mir dieses Gebell regelrecht Angst. Und der Quatsch!«
    Wieder brach Friedel ab. Der alte Bücherschrank knarrte. Bedächtig trank ich einen Schluck, stellte die Tasse umständlich ab.
    »Aber die hatten doch so einen Zulauf«, wandte ich schüchtern ein. »Für die Partei gab es sogar einen Eintrittsstopp, so viele wollten da rein.«
    »Zulauf?«, höhnte Friedel. »Wie denn auch nicht, wenn alles gleichgeschaltet wurde. Gleichgeschaltet! Ein Lieblingswort von denen. Man sieht direkt den Finger auf dem Knopf und - klick! - nimmt alles die gleiche Haltung an und setzt sich in eine Bewegung. Lieblingswörter sind verräterisch. Wem sag ich das. ›Fanatisch‹ zum Beispiel. Das passte zu ihrem Getöse, ihrem Gebrüll. Je aussichtsloser es im Krieg wurde, desto häufiger hörte man dieses Wort. Bekenntnis: fanatisch, Gelöbnis: fanatisch, der Glaube an den Endsieg: fanatisch, und nach dem 20. Juli’44 die Treue zum Führer: alles fanatisch. Heute klingt ›fanatisch‹ wieder abschätzig. Sogar Wörter können sich bekehren. Naja, bekehrt werden.«
    Lewis Carroll, den wir gerade im Englischunterricht lasen, fiel mir ein: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagte da Humpty Dumpty in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau das, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger.‹< ›Es fragt sich nur‹, sagte Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann .‹ ›Es fragt sich nur‹, sagte Humpty Dumpty, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹«
    »Genau so!«, nickte Friedel und fuhr fort: »Schlimm war, wie die versuchten, mit der Sprache der Religion die Sehnsucht nach mehr als dieser Welt für sich umzubiegen. Einiges kennst du sicher schon. Die ›Vorsehung‹ war ja immer im Spiel. Aber auch das ›Tausendjährige‹ oder das ›Dritte Reich‹ riefen Vorstellungen von Ewigkeit und Himmelreich wach. Die braune Bewegung hatte ihre ›Märtyrer‹, ihre ›Blutzeugen‹, ihren ›Orden des Deutschen Blutes‹. Braunau, Hitlers Geburtsstadt, wurde
zum ›Wallfahrtsort der deutschen Jugend‹ erklärt, Hitler wurde der ›Heiland‹, der ›Erlöser‹, der Deutschland die ›Auferstehung‹ brachte. Weihnachten, am ›Fest der deutschen Seele‹, wurde ›die Neugeburt des Lichts‹ gefeiert, der Jude Jesus verdrängt. Germanen-Bibel hieß eine Anthologie von der Edda bis Ina Seidel, und das ›Evangelium des deutschen Volkes‹ hieß: Mein Kampf . Der Krieg war ›heilig‹. Zumindest bei Teilen der evangelischen Kirche sind die Nazis mit dieser Sprache der religiösen Ergriffenheit weit gekommen. Die Katholiken waren da widerstandsfähiger.« Friedel hatte die gestohlenen Wörter auf eine gequetscht verschnupfte Art ausgesprochen, die sie aufgeblasen und falsch erscheinen

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