Aufbruch - Roman
abgewöhnt, versteck die Dinger sogar vor mir selbst. Aber jetzt brauch ich eine. Mir platzt noch immer der Kragen, wenn ich dran denke.«
»Was, äh«, stotterte ich, »ist ein 131er?«
»131er? Richtig. Woher sollst du das wissen. Also. Bei dieser Entnazifizierung, hat dir die Mader sicher von erzählt, gab es Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. 133 Fragen mussten die in einem Fragebogen ausfüllen. Der Fragebogen . Ernst von Salomon. Schon gelesen?« Ich schüttelte den Kopf. »Was glaubst du, was da nach dem Krieg los war! Wenn alle erst mal mitgemacht haben, ist es am Ende keiner gewesen. Kennt man ja. Jeder wollte einen Persilschein haben, für die Kategorie V: ›Entlastet‹. Persil - weißer geht’s nicht. Dafür ließen die Amis Ausschüsse bilden. Unbelastete, die nichts mit den Nazis zu tun hatten, saßen da drin. Kaum einer wollte da rein. So scheel, wie die angesehen wurden! Fast so, wie vorher die Spitzel von den Nazis. Die hatten ja auch überhaupt kein schlechtes Gewissen, nicht einmal nach’45, wenn sie erfuhren, was sie ihren Opfern angetan hatten. Sie hatten doch nur ihre Pflicht erfüllt und ihr Gewissen beim Führer abgegeben. Und der hatte ja immer recht!«
Wie Friedel die Worte ausspuckte! Wie sie »Gewissen« und »Führer« ins Gegenteil verkehrte!
»Waren das 131er?«, warf ich ein.
»Nein«, wehrte Friedel ab. »Also: Die in den Ausschüssen mussten sich von den alten Nazis ganz schön was anhören. Als ›Nestbeschmutzer‹ wurden sie beschimpft, als ›Vaterlandsverräter‹. Dieselben Leute konnten dieselben Wörter weiter benutzen. Nur die Macht, einzusperren und zu töten, hatten sie verloren. So, und nun komme ich zu deiner Frage: 131er. Artikel 131 des Grundgesetzes. Danach mussten alle Beamten und Angestellten, die nicht als ›hauptschuldig‹ oder ›belastet‹ eingestuft waren, wieder eingestellt werden. Verabschiedet wurde der Artikel mit den Stimmen aller Parteien, sogar mit denen der Kommunisten, die damals noch nicht verboten waren.
Ohne eine Gegenstimme. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dreist die alten Nazis wieder auftraten. Wenn deren alte Posten schon besetzt waren, gebärdeten sie sich wie die Märtyrer. Allen voran Mader. Der hatte nämlich nicht nur einen Brief von den Blumenfelds. Der konnte sogar einen Brief beibringen, von einem, den er ins KZ gebracht hatte. Den roten Köbes, Jakob Kucks, kennst du doch, den alten Sozi.«
Ich nickte. Das Original mit der zerhauenen Nase kannte in Dondorf jeder.
»Den hat der Mader nach Möhlerath gebracht. Gestapo. Wie den Pastor Böhm. Hitler hielt mal wieder eine Rede, und auch der Köbes stand da vorm Rathaus. Man konnte den Lautsprechern ja nicht entkommen. Und wehe, man ging weiter, als hörte man nichts. Da konnten sie dich gleich kassieren. Also, der stand da mit einem Kollegen, und der frotzelt: ›Na, Köbes, bis de jitz auch en lecker Schokolädschen dursch un dursch?‹ ›Nä‹, sagte der Köbes, ›en Biffstecksche: außen braun und innen rot.‹ Das meldete der Mader nach Möhlerath. Geholt haben sie beide, aber den Jakob haben sie wegen seiner Vorgeschichte behalten. Außerdem lag da noch eine anonyme Anzeige vor, Herr Jakob Kucks habe auf der Post den Deutschen Gruß, ›Heil Hitler!‹, mit ›Drei Liter!‹ beantwortet. Und was macht der Kucks nach’45? Der stellt dem Ortsgruppenleiter Mader einen 1a-Persilschein aus, vor allem, was dessen Haltung zu den Juden betraf. Obwohl der dazu aufgewiegelt hatte, den Blumenfelds die Fenster einzuschmeißen und den Herzens die Wohnung zu verwüsten. Und jetzt hat der Köbes in der Kolonie einen Schrebergarten.
Ach, Hildegard, oder Hilla, hörst du ja lieber. Tja, wenn alles so einfach wäre. Umbenannt hatte man schnell alles wieder. Die Schlageter-Straße hieß wieder Schulstraße, die Adolf-Hitler-Straße wieder Dorfstraße. Die Gustloffstraße war wieder der Marienweg. Und die Hermann-Göring-Straße wieder die Großenfelder Chaussee. Und Holland wurde von der Westmark und Österreich von der Ostmark befreit, so hießen die damals
wirklich, und deutsche Mädchen durften wieder Lea oder Sara heißen. Das war bei den Nazis verboten.«
Friedel steckte sich eine zweite Zigarette an und wedelte den Dunst beiseite. »Sie schmecken mir nicht mehr, aber ich brauch sie noch.« Friedel sog den Rauch in die Lungen, hustete, lief rot an, machte die Zigarette aus. »Es geht nicht mehr so richtig.« Sie wischte Rauch und Tränen aus
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