Aufbruch - Roman
wurden für jeden Akt des Widerstandes festgelegt, und der mit den meisten Punkten sollte Bundespräsident werden - wenn er denn noch lebte! Finanzieren müsste das Ganze der Feigling, der den miesen Brief gegen Rebmann geschrieben hatte. Bis heute kannten wir seinen Namen nicht. Der Vater von Clas oder Alois oder Rolf? Die hatten besonders oft von Auseinandersetzungen mit ihren Vätern erzählt.
»Hallo«, winkte Monika uns aus dem Gewühl zu. »Hör mal!« Ihre Zigarettenspitze hatte sie weggesteckt, in dieser Umgebung verfehlte sie ihre Wirkung. Sie zog einen jungen Mann hinter sich her, dicke Brille, aber kräftig und braungebrannt. Monika murmelte seinen Namen und nahm mich beiseite. »Kann später werden heute Abend«, flüsterte sie, »besser, du nimmst die Bahn.«
»Na klar«, grinste ich verständnisvoll, nickte Rolf zu und drängte ihn weiter. »Schöne Maid«, spielte die Band, »hast du heut für mich Zeit«, und die Tänzer jubelten »Oja, oja, o!«, ein Gespräch über Auschwitz so fehl am Platz wie vor Zeiten die Makronen zu Kennedys Begräbnis beim Schulzahnarzt.
In der Halle auf langen Tischen Schüsseln mit Kartoffel- und Eiersalat, Frikadellen und Brötchen; dazu Bier und Wein, Limo und Cola. Erdbeer- und Pfirsichbowle. Ein Softeis-Automat. Rolf quetschte mir eine Portion auf ein Hörnchen, und ich grub meine Zunge in die kalte nachgiebige Masse und dachte an die Zunge von der Fischbrötchenkirmes, an Doris’ Zunge, an Sigismunds Zunge, Godehards Zunge, war froh, mit keiner mehr etwas zu tun zu haben, nicht die Spur von Sehnsucht nach einer Zunge, die der meinen in meinem Mund ihren Platz würde streitig machen. Ich ließ meine Zunge über die Zähne gleiten, schiefe Zähne, aber gesund, und die meinen allein. Meine Zunge, meine Zähne gingen keinen etwas an. Ich ging keinen etwas an. Unabhängig, stolz und frei.
Einen Anflug von Sehnsucht spürte ich nur einmal. Christiane war glücklich. Sie war verlobt, würde noch in diesem Jahr heiraten, und ich glaubte, ein Bäuchlein unterm Glockenrock zu sehen. Ihr Hans war sechs Jahre älter als sie und bewohnte allein mit seinem Vater ein eigenes Haus in Dodenrath.
An der Bushaltestelle, erzählte Christiane, hätten sie sich kennengelernt. Geregnet habe es, was das Zeug hielt. Da habe ein Auto gehalten. Hans’ Auto. Sie habe ihn ja schon vom Sehen gekannt, vom Schalter. Und auf mein verständnisloses Stutzen fügte sie hinzu, er arbeite da, bei der Post. »Ich hab ihm leid getan, hat er später gestanden«, sagte Christiane, »so allein im Regen.«
Gegen halb elf holte er sie ab, ein schlanker Mann mit dunklem Haar und blasser Haut, der mich herzlich grüßte, als seien wir alte Bekannte. Auch er nahm noch ein paar Lose für die Tombola.
Anfangs verkauften nur ein paar Messdiener, später, da der Absatz allzu schleppend lief, zogen auch Pastor und Kaplan der Großenfelder Martinsgemeinde mit den Bastkörbchen umher. Der Erlös für einen guten Zweck, Misereor, die Mission in Afrika. Fast alle Papierchen zeigten nur die sieben Todsünden oder die sieben guten Werke.
»Dreimal Geiz, einmal Wollust, zweimal Durstige tränken, einmal Kranke pflegen, einmal Gefangene besuchen«, seufzte Christiane. Nur Zahlen zwischen eins und einhundert verhießen Gewinne. Anfangs lagen die Gegenstände unter einer Decke, dann, als der Verkauf trotz geistlichen Beistandes zu erliegen drohte, lüftete man das Geheimnis, und der Hauptgewinn tat prompt seine Wirkung: ein Tonbandgerät, ein tragbares, wie es erst seit kurzem auf dem Markt war. Das sprach sich herum und trieb sogar die Verliebten aus Gebüsch und Wiesen. Selbst Clas griff zu: »Wollust«, grinste er, »Völlerei, die Hungrigen speisen, die Nackten bekleiden«, las er kopfschüttelnd und steckte zufrieden drei Ziffern in die Tasche. Offensichtlich waren die Verkäufer nach dem Motto »Die Letzten werden die Ersten
sein«, vorgegangen, denn wirklich malte sich mit vorrückender Stunde immer öfter Zufriedenheit auf den Gesichtern der Käufer, und so versuchte ich es auch noch einmal und fischte neben »die Trauernden trösten« noch eine Sieben aus dem Körbchen des Kaplans.
Gegen halb elf sollte die Verlosung anfangen, niemand durfte die letzten Busse und Bahnen verpassen, die um Mitternacht fuhren. Im Laufe des Abends hatten die Tische sich geleert. Draußen tauchten Fackeln den Park und die ausgelassen tanzende oder züchtig flanierende katholische Landjugend in fürstliches Licht. Wer weitergehen
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