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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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hat die im Mund zu suchen, Seife ist Sauberkeit, Reinheit, weiß wie Schnee, Nivea-weiß, wie neugeboren.
    Ich musste zurück in mein altes Geleis, musste Ordnung schaffen, das Grauen schwächen, den Verstand nach Kräften nähren. Sieben, dachte ich, meine Glückszahl ist sieben, siebenmal hintereinander musst du schlucken, siebenmal hintereinander husten, dich räuspern, siebenmal, siebenmal hätte ich alles getan, nur um fernzuhalten, wozu dieses fein gefaltete, weiche, fusselfreie Papier gut sein sollte. Die Sonne ist aufgegangen, ich sagte mir das vor, als läse ich aus einem Schulbuch: Vögel singen, die Sonne geht auf, die Wiese ist im Wald. Was hatte ich damit zu tun? Vögel singen, Rehlein springen, die Silben rannten sich in meinem Kopf fest, wiederholten sich, kreisten leiernd wie ein ausgedientes Grammophon.
    GegrüßetseistduMariavollderGnadederHerristmitdir … Nichts anderes durfte mir in den Kopf kommen, ich verkroch mich hinter die Wörter des Gebets, verschanzte mich hinter sinnlos geleierten Silben, hinter Schluckauf und Krämpfen. Von Schluckauf und Schmerzen geschüttelt, mein Gehirn ins GegrüßetseistduMaria verkrallt, rieb ich mich mit den Papiertüchern trocken, dort, wo es noch ein paarmal nachsickerte, wenn ich glaubte, es geschafft zu haben. Unter dem Kleid meine Handtasche. Ihre scharfen Metallecken hatten mir nichts genutzt, ich umklammerte die Kanten, bis sie mir tief in die Handflächen schnitten. Der Schmerz tat mir wohl. Ich öffnete die Tasche,
nichts fehlte. Meine Monatskarte für die Straßenbahn zeigte das Photo eines Mädchens mit einem dicken Zopf über der rechten Schulter. Gezeichnet: Hildegard Palm. Ich betrachtete das Photo und suchte zu begreifen: Das war ich. Ich gestern. Was hatte Ich-gestern mit Ich-heute noch gemein? Unter der Handtasche Unterhemd, Unterhose, BH. Daneben die Schuhe. Schön sein - schön bleiben . Alles da. Unversehrt. Steh auf, befahl ich mir, zieh dich an, befahl ich mir. Geh! Ich schleppte mich neben meinem Körper her, schleppte meinen Körper wie einen schweren Koffer neben mir her, schwitzte, schluckaufte, die Beine lose und locker, als stapfte ich durch tiefen Sand. Das Grün der Bäume, grell und scharf im frühen Licht, starr wie gefärbtes Papier, der Pfahl der Haltestelle, das Gasthausschild an dem grauglänzenden Haus stürzten auf mich ein, schwer legten sich die Gegenstände um mich herum, schlossen mich in immer engere Kreise ein, blindlings stolperte ich vorwärts, bis mir der würgende Ring aus dem Leib in die Kehle stieg, mich in die Knie zwang, vornüberwarf und Fusel und Schleim noch einmal aus mir herausbrach.
    Holtschlösschen war die nächste Haltestelle. Ich zeigte meine Schülerkarte.
    »So früh schon im Wald gewesen?«, scherzte der Schaffner. »Jetzt aber ab nach Hause. Ist ja auch bald Zeit zum Essen.«
    Ich antwortete mit einem Schluckauf.
    »Prosit!«, quittierte der Schaffner, und die Fahrgäste grinsten. Niemand schien mich zu kennen, keiner nahm Notiz von mir, bis auf eine dicke Frau, die mich mit tückischen Blicken musterte.
    Ich sah an mir herunter: der weite lila Tellerrock mit den schwarzen Samtpunkten, unzerknittert, unbefleckt. Versuchte mein Gesicht im Fensterglas der Bahn festzuhalten, zu hell, nur ein paar verwischte bunte Schatten waren auszumachen. Draußen die Welt, in grelle Farben gebannt, ruckte vorwärts wie in einer Diaschau, vom Schluckauf in immer neue Ausschnitte zerhackt. Das ist doch lustig, sagte ich mir, das ist doch zum
Lachen, komisch ist das. Schwarz ragten die Bagger an der Kiesgrube in den heißen Himmel, ein junges Paar machte sich auf einer Luftmatratze zu schaffen. In der Baumschule der Gärtnerei Bender waren die Robinien ein gutes Stück gewachsen, seit Peter mir hier die Treibhäuser gezeigt hatte. Sein kleiner Laster stand vorm Haus. Das Milchgeschäft hatte vor wenigen Monaten geschlossen. Dort wurden nun Zeitungen und Zigaretten verkauft. Milch gab es jetzt in Tüten vom Mini-Markt, Salz gab es im Mini-Markt, Zucker gab es im Mini-Markt, Hering in Tomatensoße gab es im Mini-Markt, Kekse, Linsen, Mehl … Alle guten Dinge mit guten Namen gab es im Mini-Markt. Gute Wörter, nahrhafte Wörter. Wörter für die Lichtung im Wald gab es im Mini-Markt nicht.
    Der Schluckauf ergriff Besitz von mir, und ich überließ mich nur gar zu gern seiner Gewalt. Einen Schluckauf haben, das war nichts Schlimmes, das hatte doch jeder schon mal gehabt. Ich hatte den Schluckauf, was war schon dabei.

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