Aufbruch - Roman
Selberschuld drohte mit Wörtern für die Lichtung, so, dass ich mit Meersternichdichgrüße doppelt schnell in die Pedale trat. Todmüde kroch ich abends ins Bett, froh und traurig zugleich, dass Bertram noch weg war. Ich schloss die Augen, Nickis Bild stieg auf, lebendiger Trost.
Von Monika kam eine Karte: »Did you get your last tram?« Englisch fanden wir chic. »Everything o.k.«, schrieb ich zurück. Sehr weit entfernt fühlte ich mich von dem, was mein Leben vor der Lichtung ausgemacht hatte, vom Cäcilienfest der katholischen Jugend, von Kirmes und Cola in der Eisdiele, dem Rumstehen an Ecken, dem Kichern und Aufgeregttun. Selbst in der Erinnerung daran konnte ich mich nicht mehr wiederfinden.
Ob ich mich erkältet hätte, fragten die Frauen bei Maternus, wenn ich alle Stunden zur Toilette rannte.
»Dat Mädschen is aus dem Lot, isch weiß aber nit waröm«, hörte ich Lore im Gespräch mit Traudchen. »Dat Hilla hat doch alles jeschafft. Und jetz auch noch auf die höhere Schul. Ob et Liebeskummer hat? Man sieht et jo nie met nem Jong.«
Sobald ich dazukam, priesen sie den Kaffee im Sonderangebot bei Mini.
Samstagabend weichte die Mutter den Drillich des Vaters im kochend heißen Wasser ein und machte sich mit Gießkanne und Harke auf zum Friedhof. Ich zog Rock und Unterhose aus und tauchte, die Beine über der Wanne gespreizt, den Unterleib in die Lauge, einmal, zweimal, siebenmal, bis ich die Hitze aushalten konnte, auch die Beine in die glitschige Brühe zog und mich mit zusammengebissenen Zähnen zu den ölverdreckten Blaumännern in die Schmierseife hockte. Feuerrot brannte mein Bauch, flammte die Haut bis zu den Knien, die weiß zwischen Ober- und Unterschenkel aus dem glühenden Fleisch herausragten. Blutrot die Haut, sonst nichts.
Warten machte mich mürbe, porös, durchlässig für Angst, Verzweiflung, Verstörung. Immer sah ich sie beide auf mich zukommen: Erlösung, Verwerfung. Lebte in zwei Zeiten, noch hier und schon drüben, und dazwischen: Niemandsland, Niezeitsland. Das Warten.
Im Tageslicht warteten die Dinge mit mir, nahmen mir einen Teil des Wartens ab, mein wandernder Blick konnte die Last auf die Dinge verteilen. Alltag nahm mich in Anspruch, die Pillen bei Maternus, die Geschichten der Frauen, der Missmut der Mutter - »Du bringst disch noch um mit dem Fahrrad!« - lenkten mich ab, auf den holprigen Feldwegen musste ich achtgeben.
Nicht so des Nachts. Mit jedem Atemzug drückte das Dunkel mich tiefer ins Warten, tiefer in die Angst. Warten: die Mutter der Angst. Vom Warten ausgelaugt, verspürte ich von Tag zu Tag stärker den Drang, laut zu schreien, alles hinwegzufegen, die Hitze, die Sonne, die Weiden am Rhein, die Dächer von den Häusern und die Wörter von den Seiten der Bücher, leer und wüst sollte die Erde sein, wie vor allem Anbeginn.
Konnte Rosenbaums Brief für mich noch gelten? »Du bist Deine Geschichte. Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben.« Schöne Sprüche?
Als mich früh am Morgen Krämpfe weckten, war ich zu erschöpft für Freude und Triumph. Lautlos schlüpfte ich aus dem Bett, schnallte mir eine Binde am Taillengummi fest, zog mich an und schlich aus dem Haus, rannte durch die menschenleeren Straßen zum Rhein. Die Kirchturmuhr schlug fünf. Die Luft, noch blass und kühl und ein wenig feucht, kräuselte die Haut, ein leichter, feuchter Flaum, o flaumenleichte Zeit der ersten Frühe. Doch es würde wieder heiß werden. In den Auen hing der Tau wie Schweißperlen an den Gräsern. Grillen und Vögel zirpten und tirilierten, quirlten ihre Stimmen wild durcheinander, als wollten sie alles Wichtige noch vor der Hitze erledigen.
»Du jehst noch ens en de Binsen«, pflegte die Großmutter zu sagen, wenn sie mir kundtat, dass ich unausweichlich ins Verderben
steuern würde. Schon von weitem sah ich sie beieinanderstehen, graues Grün, die fahlbraunen Wedel gebogen von einer leichten Brise aus dem Westen. Ich dachte an den Großvater, der uns Flöten geschnitzt und die Sprache des Schilfs gelehrt hatte, diese luftige Zwiesprache zwischen Binsen und Wind. Nein, ich war nicht in die Binsen gegangen.
Ich ließ mich zwischen die dürren Stecken auf die hartgetrocknete Erde fallen und wartete. Wartete auf Tränen, Erlösung, die doch jetzt aus mir herausbrechen mussten wie im Frühjahr die Knospen aus den Zweigen. Oder Regen, in jedem Roman wäre jetzt ein erquickender Regen vom Himmel herabgefallen, hätte mich reingewaschen, die
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