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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Seele gelöst, endlich auch einmal meine Seele ganz, aber hier badete ich nur in Schweiß, war ich nichts als Krampf und Schweiß. Sich in Tränen auflösen, das sagt sich so dahin. Die Tränen, die meine Angst hätten wegschwemmen können, meine Scham, meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld: Die Tränen kamen nicht. Scham und Schuld blieben in mir stecken. Eingekapselt in gefrorene Tränen. Ich trug sie zurück durch die Straßen, die sich allmählich belebten, Arbeiter kamen von der Nachtschicht zurück, andere machten sich zur Frühschicht auf. Ich trug meine Kapsel zurück nach Hause, wo ich log, ich sei in der Morgenmesse gewesen. Trug sie ans Fließband zu Maternus und wieder zurück in die Altstraße 2. Mit der Kapsel würde ich leben können wie Onkel Mätes mit seiner Kriegsverletzung, einem Granatsplitter, der wanderte, wie er sich ausdrückte, von der Hüfte durch den Körper, wer weiß, wohin. Nur nicht ins Herz.
     
    Abends schlich ich mich vor den dreiteiligen Spiegel im Schlafzimmer der Eltern. Hier hatte ich in Godehards Kleid gestanden, einen Fuß vor dem anderen, Hand in die Hüfte, meine Prinzessin, meine kleine Frau. Auf dem Doppelbett die rostrote Steppdecke, in der Luft der vertraute muffige Geruch zu selten gewaschener Körper. In meinem Rücken über den Paradekissen im Goldrahmen Gottvater auf seinem Thron, keine Miene
verziehend hinter seinem dichten weißen Bart. Ich starrte mich an, bis sich der Umriss meines Gesichts vernebelte, und mir war, als unterschiebe sich ihm ein zweites, blutig zerschlagen. Ehe es vollends auftauchen konnte, kniff ich die Augen zusammen, riss sie weit auf, vertrieb das Gespenst mit ein paar Lidschlägen und betrachtete meinen Körper, nackt bis auf die Binde am Taillengummi, wie man einen Gegenstand mustert, bevor man sich für oder gegen seinen Kauf entscheidet.
    Fürs Menschenauge war die Kapsel unsichtbar. Wovon man nicht laut spricht, das ist nicht da. Ich sehe was, was du nicht siehst. Niemals sehen wirst. Das Warten war vorüber, die Angst vorbei. Die Scham blieb. Die Schuld. Die Wörter für die Lichtung steckten in mir wie eine Kugel im Muskelfleisch; ein Fremdkörper, eingekapselt im gesunden Gewebe. Nur dafür, dass die Kapsel verknöcherte, musste ich noch sorgen.
     
    Schon immer war ich gern allein gewesen. Einsamkeit war Freiheit. Meine Freiheit hieß Einsamkeit. Jetzt wurde dieser Zustand unerlässlich. Öfter noch als vor der Lichtung ging ich den anderen aus dem Weg. In den Ferien war das nicht schwer.
    Kam ich von Maternus heim, schlang ich ein Brot hinunter und machte mich mit dem Fahrrad davon. An den Rhein, in die Wiesen, die Weiden, nur zur Großvaterweide fuhr ich nicht. Auch den Notstein vermied ich; dort könnte mir Sigismund auf seinem grünen Fahrrad entgegenfahren, könnten Hilla und Sigismund liegen, im Gras. Weg von allem, was war, wollte ich, dorthin, wo es kein Bild von mir gab, keine Erinnerungen, und so fuhr ich den schmalen Fußweg dicht am Rhein entlang, der nach Strauberg und weiter zum Anleger führte, einer Fähre, nahe einem Auwäldchen, meist zu nass für Spaziergänger. Hier war ich noch nie gewesen, hier war mir alles neu. Siehe, ich mache alles neu. Alles neu machen würde ich, Hilla Selberschuld verschwinden lassen. Verschwinden - doch nicht wie vormals Hilla Palm in den Büchern, den Welten, die es schon gab und wo man nie wusste, wohin sie einen führten. Ich wollte
sichergehen. Hatte ich mir nicht schon einmal erschrieben, was ich brauchte? Eine Ferienreise, einen finnischen Freund? Nun würde ich, Hilla Palm, mir eine ganze Welt erschaffen, Welten nach meinen Bedürfnissen, allein mir untertan, zugetan, allein mir erreichbar. Eine Welt der Milde, der Schönheit, der Selbstvergessenheit. Aufgehen wollte ich im Selbst einer Petra Leonis, in ihrer Welt mich verströmen, in die Wörter-Dinge, verschwinden in ihren Molekülen, Atomen, sie beseelen mit meinem Atem, Leben einhauchen, bis ich atemlos versinken würde in ihnen allen. Ohne zu lügen würde ich, könnte ich so von Grund auf glücklich sein, anders sein, mir ein Leben zuschreiben, das saß wie angeboren.
    So bezog ich mit meiner Kladde - ich war seit den Heften Schöne Wörter, schöne Sätze den Karos treu geblieben - eine Mulde im Sand inmitten eines Erlengebüschs.
    »Beati dies - Schöne Tage« , schrieb ich aufs Deckblatt. Und darunter: »Tagebuch von Petra Leonis.« Vom Meer schrieb ich, das ich nie gesehen hatte, tauchte ab in das Meer

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