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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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ebenso wie aus den sicht- und hörbaren. Die verborgenen aber seien die stärkeren, meinte er; sie entzögen sich dem Intellekt, den Filtern der Sachlichkeit und könnten uns aus unseren Vernunft-Verstecken scheuchen mit geradezu physischer Wucht. Zwischen den Zeilen, hinter den Wörtern lesen. Daher sei jedes Gedicht eine Aufforderung an den Leser: Lies dich selbst. Gedichte: Poetische Verwandte des Orakels von Delphi. Erkenne dich selbst.
    Genau das aber musste ich vermeiden, selbst um den Preis, Rebmann zu enttäuschen. Im Unterricht kam er gut ohne Poesie zurecht. Rebmann liebte Gedichte zu sehr, als dass er sie pädagogischen Dehn- und Streckübungen ausgesetzt hätte. Aber dass ich kein Interesse mehr zeigte an den Gedichten von Ingeborg Bachmann, Günter Eich oder Hilde Domin, die er mir nach den Sommerferien mitbrachte, ließ ihn bekümmert den Kopf schütteln. Bislang hatte ich nach jedem neuen Gedichtband gegriffen, vieles abgeschrieben und in den Pausen mit dem Lehrer erörtert. Jetzt warf ich kaum einen Blick auf das, was mir vor der Lichtung einsame Freuden versprochen hätte, murmelte nur »keine Zeit« und ließ Bücher und Lehrer links liegen. Auf dem Weg zum Bus fiel mir ein, dass ich die Bücher wenigstens hätte mitnehmen können, so tun als ob. Doch nicht einmal mehr anrühren mochte ich diese Sprengsätze.
    Monika bemerkte meine Einsilbigkeit nicht; sie war frisch verliebt. Anke nahm mich gleich beiseite, verdrehte die Augen in Richtung Armin und vertraute mir an, nichts, aber auch gar nichts sei an dem Abend in Großenfeld geschehen, irgendetwas Schlechtes habe er, ihr Armin, gegessen oder getrunken, jedenfalls keine Spur von einer alten Flamme, die obendrein von ihrem Verlobten abgeholt worden sei. Was ging mich das an? Nie mehr konnte ich den blonden Klassenkameraden ansehen,
ohne dass es mir buchstäblich hochkam, das Auto, die Flasche, die Hand, die Lichtung.
    Meinem Finnen machte ich den Garaus. Erkki Huusarii fuhr mit seinem Motorrad an einen Baum. Nicht gelitten. Anke und Monika ergriffen im Beileid meine Hand, die ich ihnen, wie in Tränen, naseputzend entzog. Sie behandelten mich als eine Art Witwe und zeigten für meinen Rückzug, den sie meiner Trauer zuschrieben, elegisches Verständnis. Astrid hätte sicher gefragt, woher ich das denn wisse, wenn er doch tot sei; und ich griff vorbeugend noch einen Freund aus der Luft, dem habe er sich anvertraut, mein ferner Liebster. Auch alle meine Briefe habe der mir zurückgeschickt. Genau wie Jacques de Malet, seufzte Monika, die gerade Maupassants Novellen verschlang.
    Doris lud mich zu ihrer Verlobung ein. Ich sagte ab. Karola, Christel und Maria schrieben Postkarten. Ich warf sie zum Altpapier der Großmutter fürs Feuermachen. Ich ging im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus. Ich fuhr nicht mehr im Theaterbus nach Köln. Musik war schlimmer als Gedichte. Worte waren nie, selbst nicht in der Dichtung, ohne Bedeutung, auch Wörter im Zustand der Poesie zwangen dem Verstand Anhaltspunkte auf. Hinter den eigenartigen Fügungen der Wortbilder lag immer der Verstand auf der Lauer und damit die Möglichkeit des Abstands, der Ironie. Musik macht diese Barriere durchlässig; jede Tonfolge, jede Kadenz konnte meine Kapsel sprengen.
    Und ich musste mich vor fremden Umgebungen hüten.
    Einmal noch besuchte ich Monika. Doch schon, als ich im Wohnzimmer ihre Mutter begrüßen wollte, vermochte ich kaum der gehässigen Veränderung standzuhalten, mit der mich das Zimmer, das mir zwar nicht vertraut, doch auch nicht gänzlich unbekannt war, überfiel. Der Teppich, dessen Prächtigkeit mich immer entzückt hatte, glühte in tiefen tückischen Farben, besonders Rot und Grün strotzten prahlerisch und hoben sich drohend voneinander ab, fielen auseinander wie Wasser und Öl, als seien sie von so verschiedener Materie, dass ich kaum
wagte, sie zu betreten. Die Kanten der Anrichte stachen hart wie geschliffen in die zurückweichende Luft, die Messingleuchter an den Wänden richteten ihr blinkendes Metall gegen mich, aus den Falten der Gardinen floss rotes Blut in grünes Gras, und die Zierteller auf ihren Gestellen bedrängten mich mit ihrer wohlgeordneten harmlosen Biederkeit und zwangen mich in dieses allzu gut bekannte, qualvoll gemischte Gefühl von Schuld und Scham.
    Monikas Mutter hatte sich mir zugewandt; ihr Parfüm, zuvor stets bewundernd genossen, verschlug mir den Atem. Ich bemühte mich, ihr zuzuhören, sah ihre Lippen sich runden, sich schließen, doch

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