Aufbruch - Roman
Hilfe instand hielt. Mit einem männlichen Wesen, und wenn es ein Klassenkamerad war, allein in einem Raum zu sitzen, und wenn es sein Zimmer unterm Dach in seinem Elternhaus war, sich gemeinsam über ein Buch zu beugen, und wenn es das
Mathematikbuch war, dazu der Umstand, dass ich im Dunkeln würde nach Hause fahren müssen: Das kam nach der Nacht auf der Lichtung nicht mehr infrage.
Es dauerte nicht lange, und Meyerlein sprach - nachdem ich an der Tafel wieder einmal neben die Brücke getappt und in den Abgrund der Ahnungslosigkeit gestürzt war - mit ungewohnt leiser und bekümmerter Stimme: »Zu faul. Wie schade. Einfach zu faul. Setzen.«
Er hatte ja recht. Ich war faul. Außen rot und fest, aber innen verdorben wie ein madiger Apfel, raus damit aus dem Korb der Guten. Madig, aasig, ungenießbar. Ich starrte Meyerlein an und unterdrückte einen Schluckauf.
Nach der Stunde bat Meyer Rolf zu sich, und danach kam Rolf zu mir und bat, ja, er flehte mich an, die Nachhilfe fortzusetzen.
Ich ließ ihn stehen, oder ließ er mich stehen? In der Klasse war ich nun endgültig die, die man stehen ließ, links liegen ließ, und zu Hause war es genauso. Mir war es recht. Doch dann wurden die Tage kürzer, und ich musste morgens im Dunkeln aus dem Haus und kam nachmittags oft erst im Dunkeln zurück. Wohin gehen die Bäume und die Häuser und die Blumen?, hatte ich als Kind den Großvater gefragt, wenn die Dinge von der Dunkelheit verschluckt wurden. Sie kuschelen sisch zusammen un schlafen, jenauso wie du, hatte er geantwortet, und morjens macht die Sonn se wieder wach.
Mir verkehrte das Dunkel die Welt zum Spuk. Unversehens saß ich in einem Bus voller Gespenster, verzerrten sich die harmlosen, belanglosen Gesichter männlicher Fahrgäste in gutgekämmte Fratzen, Angst, wie ich sie seit dem Erwachen auf der Lichtung nicht mehr gespürt hatte, konnte jählings über mich herfallen, die Dunkelheit machte alles Vertraute fremd, überzog alle Erscheinungen, alles Sichtbare, Menschen und Dinge, mit Grauen. Der Kampf dagegen kostete Kraft.
Statt Gedichte lernte ich die Lebensläufe toter Dichter auswendig, als ginge damit etwas von ihrer Unantastbarkeit auf mich
über. Ihr Schicksal war groß. Ihr Schicksal war besiegelt. Im Vergangenen fühlte ich mich sicher: im Leben toter Menschen in einer toten Sprache, in der Welt der Cäsaren und Prätorianer, der Kaiser und Tribune. Zog am liebsten in alte, längst geschlagene Schlachten, blutig und grausam, unverrückbar gesiegt und besiegt, die Welt unabänderlich in Sieger und Besiegte geteilt. Sinnlose Siege. Sinnlose Triumphe. Nichts ragte in die Gegenwart. Nicht in meine Zeit und nicht in das Leben meiner Zeitgenossen.
Bis ich an jenem Morgen einen Absatz aus dem Zweiten Punischen Krieg des Titus Livius übersetzen sollte, der die Lage nach der Schlacht bei Cannae beschrieb: »Es lagen so viele Tausende Römer da, Fußvolk und Reiterei durcheinander, wie jeden der Zufall in der Schlacht oder auf der Flucht zueinandergesellt hatte. Manche suchten blutbedeckt mitten in dem Leichenfelde aufzustehen. Sie waren, da die Morgenkälte ihre Wunden zusammenzog, aus der Ohnmacht erwacht und wurden nun von den Feinden niedergeschlagen. Einige, denen die Oberschenkel und Kniekehlen durchgehauen waren, fand man noch lebend vor; sie entblößten ihren Nacken und ihren Hals und forderten dazu auf, auch ihr restliches Blut zu vergießen. Auch fand man einige, die ihren Kopf in die aufgewühlte Erde gesteckt hatten; sie hatten sich selbst Löcher gemacht, um ihren Mund mit Erde zu überschütten und sich so selbst zu ersticken. Besonders lenkte aber aller Augen auf sich ein Numider, der unter einem über ihm liegenden toten Römer hervorgezogen wurde; er selbst lebte noch. Nase und Ohren …«
Mir blieb die Luft weg. Über das blutgetränkte Land schob sich eine grüne Wiese, da lag ich und lebte noch, scharfe Witterung, lechzend nach Blut, die Meute im hellen Pkw, Kennzeichen D, Nase und Ohren waren ihnen zerfetzt, fest verschnürt zwischen Gras und Glockenblumen, die Arme an den Rumpf gezurrt, die Beine locker, lose, offen. Ledermänner ohne Gesicht, ohne Augen, ziehen mit Krallenfingern Gedärm und Eierstöcke aus den Bäuchen …
»Aber Fräulein Palm!« Sellmer rüttelte mich. »Was reden Sie? Was ist los mit Ihnen?« Ich rutschte bewusstlos vom Stuhl.
Wieder erwachend, fühlte ich Weiches, Kratziges im Gesicht, es rumpelte unter mir. Das Rauschen von Reifen auf Asphalt. Ich
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