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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Dondorferinnen gewesen. Maria zeigte Willen. Kinder mit nem Willen kriejen wat auf de Brillen. Nicht so Maria.
    Eines Tages setzte sie ihre schwarze Pagenkopfperücke auf, schnürte ihre Brüste vor die Brust, vertauschte die graublaue Rüschenbluse gegen einen feuerroten Pulli und fuhr nach Düsseldorf.
    »Bloß nit mehr nach Köln«, sagte sie. »Zu viel Dom mit Weihrauch.«
    In Düsseldorf, verriet sie mir, gehe sie meist in ein Café auf der Kö, vorher, im Kaufhof, lasse sie sich an einem der Kosmetikstände kostenlos schminken. »Die machen disch zurescht, du erkennst disch sälver nit widder.«
    »Hier, kuck mal.« Maria zog einen Photostreifen aus dem Portemonnaie, vier Photos im Passbildformat. »Die hab isch am Bahnhof im Photofix gemacht«, sagte sie. »Wenn isch nach Haus fahr, jeh isch vorher auf dat Bahnhofsklo und wasch mir alles ab. Isch weiß ja, du sachs keinem wat.«

    Die Photos zeigten eine stark geschminkte junge Frau, die unter ihrem dicken schwarzen Pony ein verführerisches Lächeln versuchte. Nur zwei steile Furchen, scharf zwischen dunkel gezeichnete Brauen gegraben, verrieten eine leidvolle Zeit. Sogar eine Arbeit hatte Maria wieder angenommen. Dreimal in der Woche half sie halbtags bei Kränzjen im Laden aus, wenn die zum Frisör ging. Stoffe verkaufen.
    »Dreimal in der Woch zum Frisör!«, kicherte Maria. »Dat jlaubt dat doch selber nit! Wenn dat wiederkommt, sieht et schlimmer aus als vorher! Do is doch ne Kääl em Spiel. Ne Kääl!« Keiner hochdeutschen Silbe würdigte Maria die andere Hälfte der Menschheit. »Warte mir mal ab! Isch bin mit de Kääls fädisch!« Wir waren Komplizen.
     
    Ein paarmal half ich sogar dem Vater im Garten. Er schaute kaum auf, wenn ich mich neben ihn hockte, nie so nah, dass unsere Arme sich hätten streifen können. Manchmal folgte uns ein schwarzglänzendes Amselhähnchen, den Schnabel unermüdlich ins lockere Erdreich bohrend, nach Würmern, Raupen und Larven. Aus den Sträuchern schmetterten seine Genossen, Elstern zeterten aus der Kiefer vom Nachbarn, auf ihrem torkelnden Flug zur Gärtnerei krächzten Krähen auf uns hinunter, aber die wunderlichsten Laute kamen vom Vater, der neben mir die Pflanzen bemurmelte, zu Porree und Kappes hinabflüsterte; mit seiner rauen ungeübten Stimme, die aus dem gewohnten Schweigen hervorbrach, wie vor Jahren, als wir nach Köln gefahren waren, mir bei C&A die erste Jeans gekauft, Russisch Ei und Kotelett gegessen hatten im Kaufhof.
    Nie redete der Vater mit mir, sah nicht einmal zu mir herüber, und ich wagte es nie, meine Augen von seinen erdschwarzen Händen zu lösen. Wenn ich mich streckte und ins Haus ging, warf ich einen letzten Blick auf seinen runden Rücken, den ergrauenden Hinterkopf über dem verschlissenen Blaumann, den ich mir, die Augen ein wenig zusammenkneifend, zu einem südlichen Weltmeer zurechtblinzelte. Doch der Blaumann blieb ein Blaumann,
so wirklich wie Marias Krebs, wie die Nacht auf der Lichtung, der Schuppenstein von der Schwäbischen Alb. Nicht träumen. Wollen. Tun. In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne. Ja. Trotz alledem. So konnte ich weiterleben. Trotzig. Trotzig leben: gegen einen Widerstand, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Nie mehr sein würde. Nichts mehr war, wie es sein sollte, und doch: Ich wollte weiter. Obwohl, trotzdem, dennoch: meine Leitwörter. Das Abitur. Das Studium. Bibliothekarin. Die Welt im Buch zurückerobern, und darin ich, mit lebenslänglichem Wohnrecht. Aber den Weg musste ich auf Bleisohlen zurücklegen. Alles Leichte, Frohe, Freie dahin. Statt Lernlust und Wissensdurst Pauken, Einprägen. War ich vor der Nacht auf der Lichtung weit offen gewesen für alles, was Leben und Bücher für mich bereithielten, neugierig, begierig zu nehmen, was mir guttat, was mir zustand, zog ich mich nun in mich zurück, verknotete und verschnürte mich um meine Kapsel herum wie die Großmutter ihre Dosen verschnürte, um und um umwunden.
    Ich hielt aus, ich hielt durch. Nur, dass ich mich nirgends ganz dabei, nirgends ganz anwesend fühlte. Stand immer mit einem Fuß in einem anderen Leben. Dem auf dem Papier. In der Samtsee. Ich hatte Sehnsucht nach meinen Kinderaugen und begann zu ahnen, was das heißt: vorbei. Nie wieder. Vorbei.

    Vor den Sommerferien hatte ich mir Hoffnung auf eine mindestens ausreichende Note in Mathematik und damit auf ein Stipendium der Studienstiftung machen können.
    Doch die Eselsbrücken hielten nur, solange ich sie mit Rolfs

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