Aufbruch - Roman
zweite Haut. Wörterhaut. Löwenhaut.
In diesen Beati Dies, den Schönen Tagen , warf ich die Last meines wirklichen Lebens ab und übte mich in der Kunst, die Dinge so zu sehen, wie sie nicht sind.
Als Bertram zurückkam, war mir das Pendeln zwischen Hilla Palm und Petra Leonis schon zur zweiten Natur geworden. Seine große Schwester würde ich nie mehr sein können. Auch die war in der Nacht auf der Lichtung gestorben. Doch wie seine große Schwester sein, das konnte ich nun wieder. Alles
konnte ich sein: wie. Wie eine Lebendige, wie eine Tochter, wie eine Oberprimanerin. Und wie eine Schwester auch. Zwischen mir und der Wirklichkeit stand dieses Wie, dieses So-sein, Sotun-als-ob. Als ob: Das stand zwischen mir und der Wirklichkeit wie eine gläserne Wand. Eine Wand, die schützte und schied.
»Amo, amas, amat«, grüßte ich Bertram, der braungebrannt und kräftig von den Pfadfindern zurückkam. Grüßte ihn wie früher, nachlässig, kumpelhaft, und freute mich an seinem offenen Gesicht, das ernster und erwachsener geworden war. Freute mich an seinen verrückten Geschichten aus dem Zeltlager, den Skizzen, die er für mich gemacht hatte: der dicke Kaplan beim Waldlauf, beim Handstand, zwei Nonnen beim Sackhüpfen; freute mich an seinem Lachen. Einstimmen konnte ich nicht. Aber ich bleckte die Zähne und stieß eine Rotte von A-Lauten aus der Kehle. Bertram fasste mich scharf ins Auge, doch noch ehe er etwas sagen konnte, ließ ich mein falsches Gackern in Husten übergehen und hielt aus, dass er mir den Rücken klopfte. Sogar seine Hand anfassen konnte ich, die er mir, grinsend, zur Faust geballt, entgegenstreckte: »Mach mal auf!« Ich wusste, er erwartete ein Spiel, dass ich eine Acht schlüge über der Faust oder eine Spirale, dazu ein Abrakadabra oder Ähnliches murmeln würde: Ich konnte es nicht. Doch Bertram, zu begierig auf mein Gesicht, ließ die Faust beim ersten Antippen aufspringen. In seiner Handfläche ein geritzter Stein. Ein Lügenstein?
Ich zuckte die Achseln. »Hatten wir doch schon.«
»Hilla, was ist los mit dir? Nu kuck doch mal genau hin!« Bertram drückte mir den Stein in die Hand, er fühlte sich warm und rau, fast lebendig an.
»Warte, gib noch mal her.« Bertram nahm den Stein, spuckte drauf und wischte ihn am Hosenbein ab. Grauglänzend zeigte sich ein Blütenblatt auf einem nassen schwarzen Ast.
»Bertram!« Ich führte den Stein an die Wange, trat nah an den Bruder heran, lehnte meinen Kopf an seine Schulter, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Der Stein rief mich an, wie schöne und wahre Worte eines Gedichts.
»Schön, nicht?«, freute sich Bertram.
»Wunderschön«, bestätigte ich. Der Stein war wieder ein Stein und konnte mir nichts mehr anhaben; so, wie Wörter uns nichts zu sagen haben, wenn wir uns nichts sagen lassen.
»Wo hast du den denn her?«
»Gefunden!« Bertram war noch immer stolz auf diesen Glücksgriff. Bei Holzmaden, nicht weit vom Zeltplatz, habe er diese Versteinerung entdeckt. Fossil nenne man das. Von: fossilis - ausgegraben. Und ein Blütenblatt sei das auch nicht, eher eine Fischschuppe. Vor etwa zweihundert Millionen Jahren habe dort noch das Meer gerauscht, die Küste etwa zweihundert Kilometer von Regensburg entfernt. Wie gern hörte ich diesem Miteinander von vertrauter Stimme und verlässlichen Tatsachen zu. Jurafossilien, Schmelzschuppenfische, Belemniten, Ammoniten, die Versteinerungen der Schwäbischen Alb umkreisten meine Kapsel wie Jupitermonde.
Doch am Abend war ich nun immer als Erste im Bett und gab vor, zu schlafen oder zu müde zu sein für unsere Abendstunden, für ein verschwiegenes Wort. Aber von Zeit zu Zeit fuhr ich mir mit dem Schuppenstein über die Stirn, suchte Trost bei einem Petrefakt.
Sachliche Gespräche taten mir gut. Der Schulalltag tat mir gut. Die Schule war fester Halt, klare Richtung. Ich funktionierte, aber ich lebte nicht. Gewöhnte mir an, einen kleinen runden Spiegel bei mir zu haben. Den zog ich heraus, wenn ich nichts mehr fühlte, damit er mir zeigte: Ja, ich war noch da. Nichts von niemandem zu sehen. Ich war rein. Ganz. Und war froh, wie leicht sich alle täuschen ließen.
Rebmann bemerkte meine Veränderung zuerst: an meiner Gleichgültigkeit, ja, Abneigung gegenüber Gedichten. Im
Gedicht, so Rebmann, begegneten wir einer Sprache, die tief und lebendig in unserem Unterbewusstsein wirke. Mir hätte er das nicht erklären müssen. Dichtung bilde Muster aus diesen verborgenen Bedeutungen,
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