Aufbruch - Roman
der Ton war wie abgestellt. Dann, plötzlich, so laut, dass ich mir fast die Ohren zuhalten musste, hörte ich: »Schon das dritte Opfer«, hörte ich, »auf dem Nachhauseweg«, schrie es aus Monikas Mutter. »Gut, dass ihr da seid.« Tot, tot, tot und nackt wie die beiden anderen, die hätten aber Glück gehabt, lebten noch. Die Stimme war wieder zu ertragen, dafür schien das Gesicht der Frau in Einzelteile zu zerfallen, ein Kinn, eine Nase, ein roter, roter Mund, der ein Opfer formte, das dritte Opfer, tot, tot, tot und Glück gehabt, und ich war wieder auf der Lichtung und schwebte über mir, hoch oben und sah auf mich im grünen Gras herab.
»Termin vergessen«, schluckte ich, »ich muss weg«, und verabschiedete mich schnell, fast unhöflich, machte kehrt, bloß weg von diesem tot, tot, tot und Glück gehabt.
Als das ruhige Herbstwetter umschlug, vertauschte ich das Erlengebüsch wieder mit meinem Stall. Gehalten von den Gesteinsformationen im Neolithikum, der Ästhetischen Erziehung , dem Punischen Krieg und den Diktaten des Ablativs, verankert in den Gesetzen des Alltags einer Oberprimanerin und getragen von der kargen, aber zuverlässigen brüderlichen Zuneigung, fand ich schließlich den Mut, meine Samtseeinsel immer weiter und kühner zu bevölkern. Wagte zuletzt sogar, erfundene Personen mit denen aus Fleisch und Blut zu kreuzen,
indem ich die wirklichen so lange verklärte, bis sie mit meinen untadeligen Papierfiguren wetteifern konnten.
Nirgends war ich so frei und geborgen wie vor dem Papier, das ich mir untertan machte. Ich konnte alles tun, also konnte man mir nichts tun. Hier war ich allmächtig. Nur übermütig werden durfte ich nicht.
Es war an einem der ersten Abende im Oktober, verführerisch lind und lau wie im Frühling, da wär mir der Großvater fast unter den Händen lebendig geworden. An Tagen wie diesen hatte er die Luft zwischen den Fingern gerieben: War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten? So sehnsuchtsvoll drängten sich die Wörter aufs Papier für diesen Fritz Rüppli in seinen ausgebeulten Manchesterhosen, der speckig glänzenden Anzugsjacke, dem kragenlosen Hemd, dass ich nicht mehr nur die Wörter fühlte, sondern den Großvater selbst. Vornübergebeugt über eine seiner Burger Stumpen, die er sich, mit dem Rücken zum Wind, hinterm Haus in den Bohnenstangen, wo ihn die Großmutter nicht sehen konnte, anzuzünden versuchte, wollte er aus den Wörtern heraus. Richtete sich auf von seiner Zigarre und sah mich mit seinen grauen Augen aus dem karierten Papier meines Schreibhefts so abgründig an, dass ich das Blatt herausriss und zerknüllte, ehe ich »Hand« schreiben konnte, womit er nach der meinen zu greifen drohte. Noch ein Wort weiter, und ich hätte den Großvater in die geheimen Kammern meiner Seele geschrieben, dorthin, wo er die Kapsel gefunden und mit einem Strahl seines Blicks gesprengt hätte. Das durfte nicht sein. Es gab kein Vertrauen. Nicht einmal auf meinen Heftseiten.
Ich verkroch mich weiterhin in meiner papierenen Existenz, blieb Petra Leonis, Betrachterin. Schrieb das Erleben den anderen zu und kostete deren Abenteuer aus wie ein Forscher die Kreuz- und Quersprünge seiner Versuchstiere, wenn ich sie von einer Glückseligkeit in die andere trieb. Ich lebte im Schreiben. Hatte ich, Petra Leonis, einem meiner Geschöpfe ein neues Glück angepasst, kehrte ich erschöpft, gesättigt und beseligt aus den Wörtern zurück, als hätte ich es selbst und wirklich erlebt.
Dennoch spürte ich das wirkliche Leben immer wieder wie einen frischen Luftzug. Nicht, wenn es laut und lärmig auf mich einstürzte. Bei den Kranken fand ich es, den Versehrten. Wie ich. Bei denen, die überlebt hatten. Wie ich. Die trotzdem lebten. Dennoch. Obwohl. Wie ich vielleicht auch wieder einmal, irgendwann. Wie Maria.
Seit meiner Nacht auf der Lichtung fühlte ich mich ihr näher als jedem anderen Menschen. Zwei Invaliden. In-validus, un-wert. Maria, ein Opfer wie ich. Und eine Kämpferin. Maria lebte mit einem ausgeschnittenen Krebs. Ich mit einer verkapselten Nacht. Wir beide nahmen die Opferrolle nicht an.
Seit dem Fehlschlag mit dem geweihten Wasser, für das ihre Mutter eigens eine Pilgerreise nach Lourdes gemacht hatte, hielt Maria nicht mehr viel von Wundern. Wenn sie nicht aufgab, sich nicht aufgab, dann wohl auch, um all denen ein Schnippchen zu schlagen, die sie aufgegeben hatten. Wo kein Wunder ist, ist kein Weg, keine Rettung, war die Meinung der
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