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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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schrie. »Hilfe!«, schrie ich, wie ich damals geschrien haben mochte oder gern geschrien hätte: »Hilfe!« Bäumte mich auf, packte den Fahrer von hinten bei den Schultern. Der Wagen bremste. Ich flog vornüber. Ich lag auf dem Rücksitz eines Autos.
    »Fräulein Palm, was ist mit Ihnen los?« Sellmer wandte sich um. »Ich fahre Sie nach Hause. Es ist wohl alles ein bisschen viel für Sie. Sie brauchen Ruhe. Und einen Arzt.« Ich atmete durch und lotste uns in die Altstraße 2.
    »Sitzen bleiben!«, befahl der Lehrer, lief ums Auto herum, machte die Tür auf, umfasste meinen Oberkörper und zog mich heraus, hob mich hoch und in seine Arme, vor seine Brust, mühelos leicht, als wäre ich noch ein kleines Kind. So lag ich da in den Armen des Oberstudienrats Dr. Johannes Sellmer, die erste wirkliche Berührung seit der Hand des kleinen Mädchens in meiner, der Hand Mavilias auf meiner Stirn, der Brust des Bruders an meiner. Hielt die Luft an, nun mussten sie doch kommen, der Schluckauf, der Krampf. Aus den Kleidern des Lehrers roch es nach Tabak, ein Geruch, der an den Großvater erinnerte, den Großvater im guten Anzug mit Sonntagszigarre.
    Die Panik verebbte, ich bekam wieder Luft, Sellmer drückte die Klingel, mein Herz raste gegen die Rippen, gegen die meinen und die des Lehrers, der immer wieder den Finger löste und senkte, immer länger den Knopf gedrückt hielt. Endlich Schritte, die Tür ging auf. Die Mutter schrie. Ich verbarg mein Gesicht an der Brust des Lehrers, spürte durch den Wollstoff seines Jacketts an meiner Wange den Schlag seines Herzens. Und hatte keine Angst.
    »Kenk!«, rief die Mutter außer sich. »Wat soll dat dann? Wer seid Ihr denn?«

    »Können wir nicht hereinkommen?« Sellmer schob die Mutter zur Seite. »Ihrer Tochter geht es nicht gut. Wo kann sie liegen?«
    »Wie, däm jeht et nit jut? Hat et widder dat Hicksen? Dä Schluckauf?«
    »Nein, Frau Palm, Ihre Tochter braucht Ruhe und einen Arzt. Aber zunächst einmal muss ich sie absetzen.«
    Nein, hätte ich am liebsten geschrien. Festhalten. Bitte festhalten. Ich drängte mich dem Lehrer in die Arme.
    »Ja, dann kommt mal rein.« Die Mutter machte die Tür zum Wohnzimmer auf. »Aber et is kalt. Wärm machen tun mir hier nur sonntags.«
    »Aber eine Decke werden Sie doch haben.« Sellmer sah sich suchend um, tat die wenigen Schritte zum Sofa, ließ mich niedergleiten, löste sanft, aber bestimmt meine verkrampften Hände von seinem Nacken und kreuzte sie über meiner Brust wie auf den Sarkophagen alter Römergräber. Seit dem Tag nach der Nacht auf der Lichtung hatte ich dieses Sofa nicht mehr berührt. Sellmer richtete sich auf und heftete seine Augen auf den Wandbehang hinter mir, hinter dem Sofa.
    Wir hatten derer zwei. Einen für Wenn-Besuch-kommt, vom Kaufhof aus Köln; er zeigte einen Rehbock, der über einen Waldbach setzt, kleinwüchsigere Artgenossen in seinem Gefolge. Auch bei Godehards Besuch hatte diese Szene das Heim geschmückt. Heute hing der andere da, der übliche, aus den Beständen des seligen Fräulein Kaasen; darauf ein weißer Hirsch mit einer brennenden Kerze in der Gabelung des Geweihs. Der Behang, insbesondere das weißgewirkte Tier, schimmerte in einem matten Seidenglanz, was dem Gebilde etwas Kostbares gab. Doch das Ganze war nicht sehr groß und vor allem zerschlissen; an manchen Stellen stach sogar der Stramin durch, so, dass die Mutter nicht nur den Spott von Verwandten und Nachbarn über das Dargestellte - »ne Hirsch met Kääze« - hatte ertragen müssen, sondern auch die Häme über dessen stofflichen Zustand: »ne Fetze.« Schließlich
war sie von einem Einkauf aus Köln mit dem flinken Bock auf grobgewirkter Massenware zurückgekommen. Um diesen zu schonen - ein Wort, das in der Altstraße für Gegenstände aller Art gern bemüht wurde, um sie stets »wie neu« zu zeigen -, hängte man ihn nur bei Bedarf, das heißt kurz vor dem Besuch zu beeindruckender Personen, über den zerschlissenen Kerzenhirsch. Zwischen Mutter und Großmutter kam es darüber immer wieder zum Streit: »Dat heilige Dier zu verstoppe! Dat is Sünde!«, so die Großmutter. Und die Mutter fauchte zurück: »Der is nit heilisch! Der is schäbbisch!«
    Nun aber heftete eine Respektsperson, ein Oberstudienrat für Latein und Geschichte, seinen Blick ausgerechnet auf dä Lumpe.
    »Mir haben noch einen«, stotterte die Mutter, »isch kann ihn holen.«
    »Wirklich? Noch einen? Dieser hier ist … Da haben Sie aber ein besonders schönes

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