Aufbruch - Roman
Stück. Diamantkarobindung … Diese Technik trifft man heute nur noch ganz selten an.«
»Dä is doch janz kapott«, maulte die Mutter, »hier.« Sie schob den Wandschrank unterm Fenster auf, schwang den zweiten Behang über den Couchtisch und sah Sellmer beifallheischend an. Der aber würdigte das Serienstück keines Blickes, schüttelte den Kopf und beugte sich über das Sofa, über mich auf dem Sofa, und fuhr mit den Fingerspitzen über den Hirschleib. So sollte er stehen bleiben, eine Höhle für mich bildend mit seinem zum Bogen gespannten Körper, eine Höhle von seinen Schuhsohlen bis zu dem kleinen Sticktier an der Wand. Einen Dämmerschein, in der es nach Großvater roch, Tabak und trockener alter Männerhaut.
»Wir sind doch Prätorianer«, sagte er halblaut in die dämmrige Höhle, und, als ich ihn verständnislos ansah, richtete er sich auf und wiederholte den Satz lauter und mit Nachdruck: »Praetoriani sumus.«
»Wat seid ihr?«, fuhr die Mutter dazwischen.
Aber Sellmer schüttelte nur ungeduldig den Kopf. »Hast du kein eigenes Zimmer? Wo machst du denn deine Hausaufgaben?«
Hörte ich recht? Sellmer duzte mich, nahm mich in die Obhut der Sprache, bot mir Schutz, Geborgenheit.
Ich schüttelte den Kopf. Es genügte, dieses Wohnzimmer mit Sellmers Augen zu sehen, diese reinliche, schlecht gelüftete Dürftigkeit. Mein Holzstall ging ihn nichts an.
»Jo«, mischte die Mutter sich ein, froh, den Mann aus dem Zimmer zu kriegen. »Die Schularbeiten macht dat Hilla im Stall. Da sitzt et auch von morjens bis abends.«
»Im Stall?«, wiederholte Sellmer. »Und wo ist der?«
»Zeisch isch Eusch.« Die Mutter strich den Kittel über den Hüften glatt. »Kommen Se.«
»Ich bin gleich zurück.« Sellmer zog seinen Mantel aus und legte ihn über mich, eine rauchige Hülle, was die Mutter veranlasste, die Treppe hoch und mit einer Decke wieder herunterzuspringen, den Mantel wegzureißen, dem Mann in die Hand zu drücken und mich unter der Decke festzustecken. Rund um mich herum steckte sie die Decke fest, als könnte ich ihr entspringen. Hiergeblieben!, sagte jeder Handgriff.
Ich ließ die Augen zufallen, hörte, wie die Tür hinter den beiden zuklinkte. Müde, so müde. Vom Schrank herab tickte die Uhr, die einstmals das blaue Stöckchen verborgen hatte, von draußen das Keckern einer Elster, aufkreischend, dann ins Lachen übergehend die Stimme einer Frau, Julchen, die Nachbarin, und ich wünschte, das ungleiche Paar aus dem Holzstall käme nie mehr wieder, und ich könnte hier liegen bleiben für immer, schweigend, allein, namenlos werden, ohne mich werden, mich verlieren, jemand ohne Sinn, niemand oder jemand gleich null.
»Lassen Sie Ihre Tochter doch ruhen«, hörte ich die Stimme Sellmers von weit her, aber da fühlte ich schon die Hand der Mutter an der Schulter: »Der Herr Lehrer will jehen«, rüttelte sie mich zurecht. Sellmer beugte sich über mich, seine schwarzglänzenden Haare fielen ihm in die Stirn, die mir so nah war, dass ich den herben, leicht öligen Geruch der Strähnen wahrnahm. In seinen Augen ein Ausdruck, wie er mir lange nicht
mehr begegnet war. Anianas Augen hatten mich so angeblickt, als ich die grüne Vase hatte fallen lassen, Kreuzkamp, mit dem schwarzen Fritz in der Hand, und schließlich Rosenbaum, nachdem er mir meinen spiritus verde ausgetrieben hatte. Und der Großvater. Er hatte mich immer so angeschaut, dass ich mich gar nicht anders fühlen konnte als ganz und richtig. Gewollt, so, wie ich war. Ich schreckte zurück vor diesem Blick, vergrub den Kopf in die Sofaecke. Verboten. Ein solcher Blick für mich für immer verboten. Ein Blick, der die Kapsel sprengen könnte. Die Tränen hervorlocken könnte, die Wörter. Das Wort.
»Ihre Tochter braucht Ruhe«, sagte Sellmer noch einmal. »Und einen Arzt. Sie haben doch einen Hausarzt?«
»Sischer dat«, erwiderte die Mutter beleidigt.
»Bitte lassen Sie mich wissen, was der Arzt sagt.« Sellmer schon im Mantel an der Tür, seine Augen hatten wieder den gewohnten Blick, Berufsblick, Lehrerblick, und ich konnte ihn wieder ansehen.
»Sie hören von mir, Fräulein Palm.« Sellmer nickte mir zu, und wie ich ihm vorher dankbar gewesen war für das Du, war ich nun froh, dass er zum Sie zurückkehrte, von mir abrückte, von mir auf dem Sofa unter der Wolldecke, die, von meinem Körper erwärmt, einen immer stärker werdenden Geruch nach Kampfer und Naphthalin verströmte. Und auch Mut machte mir dieses Sie, stellte es doch
Weitere Kostenlose Bücher