Aufbruch - Roman
das festgefügte Lehrer-Schüler-Verhältnis wieder her, die Regeln, die Ordnung, die Anforderung, eine Ordnung jenseits der Regeln in der Altstraße 2, eine Ordnung, die mich über Mich-auf-dem-Sofa, Mich-im-Holzstall, über Hilla Palm und Hilla Selberschuld hinaustrug.
»Nicht vergessen: Praetorianae sumus. Sehen Sie zu, dass Sie schnell wieder auf die Beine kommen. Wir warten auf Sie, discipula Petra Leonis.«
Mickel kam und konnte nichts feststellen, der Blutdruck zu niedrig, keine Sorge; dat Kenk hatte sich überanstrengt. Übersetzt ins Lauffeuerdeutsch des Dorfes hieß das: Dat Weet vom Rüpplis Maria hätt es met de Nerve! Dat kütt dovon, dat kütt
dovon! Erst de Meddelscholl. Dann noch Abitur! Und dat Äng vum Leed? Et hätt et met de Nerve.
Met de Nerve. Das hieß: in einem Topf mit Walburga, auf dem Sprung nach Jeckes bei de Jecke. Fehlte nur noch, dass ich den Mond anheulte oder schaurige Lieder grölte wie die arme Bürgermeistersfrau.
Lebertran und ein Blutdruckmittel brachten derlei Mutmaßungen zum Schweigen. Ich machte meine Kniebeugen, um, so Mickel, das Blut in Wallung zu bringen, die Großmutter traktierte mich mit klosterfraumelissengeistgetränktem Würfelzucker, und die Mutter beschleunigte meine Anstrengungen zu einer schnellen Genesung, indem sie mir jeden Morgen vorrechnete, was die Kohlen für das zusätzliche Heizen des Wohnzimmers kosteten. Überhaupt: das Heizen. Empört hatte sie vom Besuch Sellmers im Holzstall berichtet, wie der an der Stalltür gestanden sei, ungläubig in das Gelass gestarrt und gesagt habe: »›Da braucht dat Mädschen doch wenigstens einen Ofen!‹ Ävver isch hab nur jesacht: ›Un wer soll dat bezahle?‹ Wenn et em ze kalt is, jeht et in de Kösch.«
Nicht erzählt hatte sie, dass der Vater mir vor Jahren ein Öfchen hineingestellt hatte und ich fast an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben wäre. Daraufhin war der Ofen auf dem Wagen des Altmetallsammlers gelandet. Der Vater hatte mir seinen ausrangierten Wintermantel, die Großmutter eines ihrer Katzenfelle abgetreten.
Solange ich lag, ging es mir gut. Stand ich auf, konnte es geschehen, dass ich, ohne ein Signal, ohne Herzrasen, Atemnot oder auch nur ein flaues Gefühl im Magen, bewusstlos zusammensackte. Schonen müsse ich mich, sagte Mickel, schonen, wie das gute Service, das Sonntagskleid, den Wandbehang. Wie neu.
»So jut möt isch et auch mal haben!«, murrte die Mutter, als spielte ich ihr einen üblen Streich. »Hierode solls de. Da brauchs de disch nit mehr ze schonen.« Ich war ihr im Weg, so, wie dem Vater, dessen Ruheplatz ich einnahm. Wie gern hätte
ich ihm das Sofa im Wohnzimmer überlassen, das dann allerdings wieder kalt sein würde. Wie gern wäre ich auferstanden, aufgestanden, nimm dein Bett und wandle, ab in Bahn und Bus; Sinus und Cosinus sogar waren besser als die Miene der Mutter, ihre vorwurfsvollen Blicke, mit denen sie meine Bücher musterte: Lingua Latina - Lateinisches Übungsbuch . Dämonen oder Retter? Eine kurze Geschichte der Diktatur seit 600 v. Chr.
Nur schwer hielt die Mutter meinen Anblick auf dem Sofa aus. »Kernjesund bis de«, verdrossen stopfte sie noch ein Holzscheit durch die Ofentür, »kütt alles von de Bööscher.« Sie glaubte mir nicht. Nicht einmal Mickel. »Isch hab beim Mini die Eier verjessen. Jeh, hol mal Eier bei dem Pieper. Sind ja nur en paar Meter. Da komms de auch mal an die frische Luft! Un zwei Bratheringe kanns de auch noch mitbringe.«
Zehn Eier, zwei Bratheringe, ich war die Einzige im Laden, wurde von Veronika zügig, aber mit reservierter Freundlichkeit bedient, längst wusste man um die Treulosigkeit der Kundin aus der Altstraße 2.
Auf der Treppe wäre ich fast mit Julchen zusammengestoßen, die mich, »Isch denk du bis krank?«, argwöhnisch musterte.
»Geht schon wieder«, sagte ich, wollte mich vorbeidrücken an ihrer flauschig ausladenden Wintermantelbrust und krachte ihr vor die Füße.
Auf dem Sofa kam ich wieder zu mir. Über mir das Gesicht der Mutter, so besorgt, grämlich, beinah feindselig, dass ich gleich die Augen wieder schloss. Ich hatte sie blamiert. Julchen würde es in Windeseile herumerzählen: Wat es bei dä Palms los! Schicken en dutkrankes Kind op de Straß!
»De Eier kapott, alle zehn. De Hering Matsch. Un dä Mantel muss in dat Benzinbad«, resümierte die Mutter. Aber ich hatte meine Ruhe. Ich hatte den Beweis geliefert: Dat Kenk markiert nit. Ich stellte mich nicht an.
In den nächsten Wochen lieferte
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