Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
der Postbote dienstags und freitags Umschläge mit Hausaufgaben ab, die ich, oft gemeinsam mit Bertram, erledigte. Wir saßen uns an den Kopfenden des schmalen Couchtischs gegenüber - Murmeln verboten! - und genossen den Luxus des geheizten Wohnzimmers. Nie verwendete ich mehr Zeit auf »Die Privilegien der Päpste«, um meine Zwei in Geschichte zu zementieren oder um über den Gebrauch des reflexiven Possessivpronomens im Lateinischen zu grübeln wie in diesen Wochen vor den Weihnachtsferien. Nur wenn es ans Schreiben, ans wirkliche Schreiben ging, wollte mir in Bertrams Anwesenheit nichts einfallen. Für Rebmann musste Bertram weichen.
    »Prädikat: ›besonders wertvoll.‹ Welche Forderungen stellen Sie an einen Film, der mit dieser Auszeichnung (der Öffentlichkeit) empfohlen wird?«, fragte Rebmann in der ersten Woche. »Welche bürgerliche Tugend schätzen Sie höher: Disziplin oder Zivilcourage?«, wollte er in der zweiten Woche wissen. Und über die Weihnachtsfeiertage bescherte er seiner Oberprima die Qual der Wahl: »Abwesende, Politik und Religion sind keine Gesprächsthemen für eine gebildete Frau - Beurteilen Sie diese häufig vertretene Einstellung«, lautete das erste Thema. Das zweite: »Vaticanum II. Welchen Einfluss haben die Neuerungen auf das Leben in der Gemeinde?«
    Gattinnen wie die des Direktors Wagenstein oder des Schulzahnarztes mit ein paar Bissigkeiten in den Papierkorb der Geschichte zu feuern, war verlockend. Doch halt! Waren das denn »gebildete Frauen«? Gab es »die Bildung« mal in weiblicher, mal in männlicher Variante? Wie Damen- und Herrenmäntel? Oder Unterwäsche? Wie unterschied sich die »gebildete Frau« vom »gebildeten Mann«? Worin unterschied sich weibliche von männlicher Bildung? Was war das überhaupt: Bildung? Was sagte mein Lexikon dazu? »… Die harmonische Entfaltung aller Anlagen des Menschen aber ist nur durch ästhetische Bildung zu erreichen, da diese … durch Veredelung und Verfeinerung der gesamten Gefühlsweise die Einseitigkeiten der einzelnen Bildungsrichtungen aufhebt.« Ästhetische Bildung als die Krone
der Bildung? Als einziger Weg der »harmonischen Entfaltung aller Anlagen des Menschen« - sollte ich mich darauf einlassen? War so ein altes Lexikon nicht längst überholt? Wozu alle Bildung, alle »Veredelung und Verfeinerung der gesamten Gefühlsweise«, wenn es Menschen gab wie jene, denen gerade in Frankfurt der Prozess gemacht wurde? Die im KZ junge Frauen zuerst Mozart spielen ließen und sie dann ins Gas schickten?
    Das zweite Thema jedoch war mir vertraut. Und wie. Die heilige Messe auf Deutsch, Pastor und Kaplan mit dem Gesicht zur Gemeinde: Vaticanum II. auf dem Dorfe.
     
    Es war kurz nach den Sommerferien gewesen, an einem der ersten Schultage, wenige Wochen nach der Nacht auf der Lichtung. Auch mit Rebmann hatten wir die Umbrüche des Zweiten Vatikanischen Konzils diskutiert. Latein oder Deutsch, der Pastor am Altar von vorn oder hinten - was ging mich das nach jener Nacht noch an? Ich kam damals aus der Schule nach Hause und hörte schon von weitem die Stimme der Tante, schrill vor Empörung. Wollte mich in den Holzstall drücken, aber die Tante stürzte aus der Küchentür: »Hilla«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. »Mir haben auf disch jewartet! Wat sachs du denn dazu? Du erzählst uns doch immer, dat mir all Lateinisch spresche un wie wischtisch dat Lateinische is.«
    »Nu lass dat Hilla sisch doch erst mal dä Mantel ausziehe«, suchte Hanni die Mutter zu beschwichtigen. »Komm, Hilla, setzt disch bei uns.« Hanni rückte auf der Eckbank zur Seite.
    »Un dä knallrote Kopp! Dat is doch noch viel schlemmer! Dä hätt wohl ald widder ze viel esu!« 48 Die Mutter führte mit gekrümmter Hand ein unsichtbares Gläschen zum Mund und kippte den Kopf nach hinten. »Man möt däm doch nit dauernd en et Jeseesch lure 49 ! Do kann sisch usserens doch nit mehr op Jott konzentriere.«
»Do häs de räät!«, pflichtete die Tante ihr bei. »Von hinten sahen die jo all noch janz manierlich aus. Man sah ja nur de Rücken. Da war et fast ejal, wer da vorne stand. Die Rücken waren immer schön. Die Jewänder. Dat Jotteslamm mit dem Kreuz. Oder dä jrüne Palmbaum auf der weißen Seide. Mir wusste ja auch oft, wer dat jestickt hatte. Weiß de noch, dat herrlische Jesulein auf der Weltkugel?« Die Tante war ins Schwärmen geraten, die Frauen nickten versonnen.
    »Un jetzt dä rote Kopp un dä dicke Bauch!«, fauchte die Mutter. »Un

Weitere Kostenlose Bücher