Aufbruch - Roman

der jedoch neigte seinen Kopf zur Seite und
dem Oberschulrat zu; nickte, so gut es sein kaum vorhandener Hals zuließ, er sah widerwillig, beinah verzweifelt aus, und der Oberschulrat hörte zu tuscheln auf und erhob sich. Meyers erhitztes Gesicht verfärbte sich auf Nase und Wangenknochen ins Violette.
    Eine Formel murmelnd trat der Oberschulrat auf mich zu, ließ mir nicht einmal Zeit zu denken, dass er sich nach meinem Einmaleins zunächst einmal hätte vorstellen müssen, vielmehr schoss er seine Frage gleich ab. »Wie erklären Sie sich diese Oberfläche einer Kugelhaube?«
    Dr. Arwed Hohenlocher hatte ein langes, zerknittertes Gesicht mit einem zurückweichenden Kinn und einem Mund, der sich in ständiger übelwollender Bewegung zu einem O zusammenzog. Noch eine Spur gediegener als das Kollegium war er gekleidet, und seine Aussprache stellte selbst Rebmanns Mundgymnastik bei den Sprechübungen in den Schatten. Allerfeinstes Hochdeutsch, das sich seinem gedrechselten Äußeren bis in Brille und Haarschnitt anpasste. Er roch wie vor Jahren der Prokurist; ich glaubte, seine laue Hand im Nacken zu fühlen.
    »Nun, wie erklären Sie sich dieses Mäntelchen?«, drängte der Oberschulrat scherzhaft, und jetzt nahm ich noch einen anderen Geruch wahr, den die Pomade nur unvollkommen überdeckte. Juchten, Pinie und Moschus lagen wie eine Glasur über dem Körper des Prüfers, eine dünne Glasur mit feinen Sprüngen, durch die es bitterstreng aufstieg, ranzig und roh, wie es vor Jahren aus der Haut des Vaters getrieben war, bevor er nach seinem Gürtel gegriffen hatte.
    »Bitte, Fräulein Palm.« Seine Hand, die mir die Kreide reichte, war tadellos gepflegt, eine im Gegensatz zu der dürren Gestalt eher fleischige Hand, auf der sich blassblaue Adern durchdrückten und helle Härchen über ersten Altersflecken schimmerten. Die Manschette scharf gebügelt, Manschettenknöpfe, Tigerauge, silbern gefasst. Gleich würde der Wagen halten, zwei Gestalten würden einsteigen, mich packen, die Lippen, die Knie auseinanderzwingen, ich versuchte, in meinen
Speicher zu flüchten, zum Vorrat meiner Formeln, Regeln und Gesetze.
    »Schreiben Sie«, fuhr die Stimme des Oberschulrats fort, wie der Wagen fortgefahren war, immer weiter fort, meine Hand an der Tafel, die Kreide zittrig gegen die Schiefer klappernd, der Wagen von der Straße abbiegend, hinein in den Wald.
    »Ts, ts, ts«, hörte ich die Zunge des Oberschulrats in meinem Rücken, ts, ts, ts, als hätte er kleine Peitschen unter der Zunge.
    Schließlich stand die zweite Formel da, aber ich war weit weg, ich, Hilla Selberschuld, war bei den schwankenden Goldruten, war im grünen Gras, im roten Gras, und was von mir hier vor der Tafel stand, musste kämpfen, überhaupt stehen zu bleiben, auf den Beinen zu bleiben, so zu tun, als löse es eine Mathematikaufgabe, eine Reifeprüfungsaufgabe an der Tafel im kleinen Festsaal vor den Augen des Oberschulrats, nur jetzt nicht umfallen, die Kreide fest in der Hand und an die Tafel, so was hatte ich doch schon mal gesehen, so was hatte ich doch im Kopf, so ein Vx = phi durch 3 mal h hoch 2 mal (3r-h), das konnte doch, oder Vx = phi mal 3 durch h hoch 2 mal (3r-h) oder so ähnlich, und so oder so ähnlich kratzte ich es an die Tafel.
    Der Oberschulrat bedankte sich, zupfte seine Manschetten aus dem Ärmel, bis sie weiß und hart herausragten, und stauchte sie wieder zurück. Meyer schaute zu Boden, und ich stapfte auf heiß und feucht geschwollenen Füßen zur Tür.
     
    Dann saß ich, Hilla Selberschuld, im Holzstall und las abwechselnd in Godehards Steinebuch und im Mathematikbuch, versuchte, Formeln in Steine zu verwandeln, als Hilla Palm durch die Tür hereinkam im lila Kleid mit Tellerrock und schwarzen Punkten, Nylonstrümpfen und Pumps, so hübsch und sauber sah sie aus, und ich, Hilla Selberschuld, saß da im schlampigen Pulli und sagte: Hilla, wie siehst du so schön aus. Wir haben uns so lange nicht gesehen. Seit der Nacht auf der Lichtung ist so viel Zeit vergangen.

    Aber die alte Hilla sah mich nur scheu und sehnsüchtig an, und ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie ging, also lud ich sie ein, mit mir in das Steinebuch zu schauen. Doch sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf, rang die Hände und begann leise zu wimmern oder zu flüstern. Ich konnte nicht verstehen, was die alte Hilla, die schöne Hilla, mir sagen wollte, doch ich holte sie in den Stall hinein und drückte sie an