Aufbruch - Roman
aufgetischt hatte. Glücksspiel! Rotgrünblind! Taubstumm! Und dann diese Anbiederung an das gewöhnliche Leben. Glücksrad und Schulfest. Das Fest der katholischen Landjugend. Die Tombola, das weiße Kaninchen. Ich griff zum nächsten Zettel. Irgendwas mit Straßenbau.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Meyer. »Denken Sie doch an die letzte Hausarbeit. Alles eine Sache der Wahrscheinlichkeit.«
Ich wusste, das durfte er nicht, er baute mir eine Eselsbrücke. Aber was war das: die letzte Hausarbeit, die letzte Chance, die
letzte Straßenbahn war weg. Sollte man doch vom Ort A am Festland eine geradlinige Straßenverbindung zu einem Ort D auf einer vorgelagerten Insel bauen, sollte man doch eine Brücke bauen zwischen B und C, wenn’s nicht anders ging. Was hatte ich damit zu schaffen? Woher sollte ich wissen, wie hoch die voraussichtlichen Baukosten sind, wenn man für einen Kilometer Straße fünfunddreißig Millionen und für einen Kilometer Brücke zweihundertzwanzig Millionen veranschlagt?
Ich wusste es nicht.
Blieb die letzte Aufgabe, die auf Heucheleien von Lebensnähe verzichtete. Eine Formel, wie sie dastand, hatte ich im Kopf. Irgendwo eingeprägt in einen weichen Hirnlappen. Wenigstens ungefähr.
Zu ungefähr. Es genügte nicht. Also: mündliche Prüfung. Rebmann hatte mich schriftlich aufgefordert, im Kleid, jedenfalls im Rock, zur Prüfung zu erscheinen. Anweisung von ganz oben, sagte er, als er mir das Papier weiterreichte. Sah mich an und hob die Hände, und einen Augenblick lang glaubte ich, er wolle sie mir auf den Kopf legen.
Wieder nähte mir Hilde aus zwei Kleidern Hannis ein neues. Rot-schwarzer Pepitawollstoff fürs Oberteil, schwarzer Samt für Ärmel und Rock. Sehr zum Ärger Hildes, die auf ihre Verwandlung zweier alter in ein neues Kleid stolz war, mit Recht, wie ich zugeben musste, sehr zu ihrem Ärger bestand ich auf einer Rocklänge weit unterm Knie, was ihre Bemühungen um jeglichen Pli, wie sie es nannte, zunichtemachte.
»Amo, amas, amat«, stupste mich Bertram an der Haustür zum Abschied in die Rippen und stutzte entgeistert: »Hast du denn keine anderen Schuhe?«
Doch, hatte ich, wenn ich auch seit der Lichtung nur noch derbe Schnürschuhe trug, was unter den schlabbrigen Hosen auch nicht weiter auffiel. Heute aber trug ich - der Rock war mir noch immer zu kurz erschienen - meine Gummistiefel, am Abend vorher mit Spucke und Wichse auf Lack poliert, und so stapfte ich an diesem letzten Montag im April aus dem Haus und
vor die Prüfungskommission im kleinen Festsaal des Ambach-Gymnasiums.
Wer zur Nachprüfung musste, trug das Stigma potentiellen Versagens. Auch Oberprimaner vom Ambach-Gymnasium saßen hier, in Anzügen, Krawatten, machten faule Witze und beäugten meine Stiefel.
Sellmer holte mich ab. »Praetorianae sumus«, flüsterte er mir auf der Treppe zu, bevor er seinen Platz bei den Lehrern wieder einnahm. Da saßen sie, das gesamte Kollegium, die meisten kannte ich nur vom Sehen. Festtäglich gekleidet wie ihre Prüflinge. Mit bebenden Wangen nickte mir Meyerlein aus der ersten Reihe so heftig zu, als wolle er jedwede Falle verscheuchen. Rebmann hielt seinen rechten Arm in einem spitzen Winkel vor der Brust wie die Amerikaner bei ihrer Hymne. Neben ihm ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Oberschulrat Dr. Arwed Hohenlocher, so stand es unter dem Schreiben, das mir einen Rock zu tragen befohlen hatte. Von diesem ältlichen, hageren Mann, der vom Direktor mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit behandelt wurde, ging eine machtvolle, unbestechliche, kalte Gerechtigkeit aus, die nicht nur meine Hände feucht werden ließ, sondern offenbar auch das Lehrerkollegium in den Stand von Prüflingen versetzte. Lehrer und Schüler in einer, des Oberschulrats Hand, seinem Urteil ausgeliefert, seinen blauen Augen in Goldrandfassung, seinem kühlen blaugoldenen Blick.
Die Formel stand an der Tafel. Sie kam mir bekannt vor. Das beruhigte mich ein wenig, wenn ich auch wusste, dass ich im Bestreben, das Übel an der Wurzel zu packen, raus damit und weg damit, nur allzu gern zusammenzwang, was nicht zusammengehörte. Diese aber hatte ich in meinem Kopfregal mit der deutlichen Aufschrift »Integral« parat. Die Formel stand an der Tafel und ich davor, und mir schoss durch den Kopf, wie man das wohl rechnen müsse, mein Kleid, war das nun aus zwei alten Kleidern ein neues Kleid oder ein doppelt altes? Und dass ein Kleid vom Leid nur ein Buchstabe trennte. Ich suchte Meyerleins Blick,
Weitere Kostenlose Bücher