Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
mich. Bitte, Hilla, bleib, du gehörst zu mir, lass mich nicht allein. Aber sie zog sich langsam aus meiner Umarmung, vielmehr schmolz sie in meinen Armen zu nichts, und ich hielt nur meinen Pulli umklammert und weinte im Traum auf die kratzige Wolle.
    Doch mein Gesicht war trocken, als Bertram mich rüttelte und fragte, was mir denn fehle, ich hätte gewinselt wie vor Jahren unsere Katze unter der Bahn.
     
    Zahlen waren mir, so weit ich zurückdenken konnte, nur als Ausdruck des Mangels, der Not und des Streits begegnet. Zu Hause rechnete man mit dem Pfennig. Dem Pfennig, der fehlte. Um den Pfennig, der fehlte, wurde gefeilscht. Freitags zählte der Vater der Mutter den Inhalt der Lohntüte auf den Tisch; das Geld wurde eingeteilt, und es war immer zu wenig. Nicht ein Mal, Meyerlein hatte das mit resigniertem Spott festgestellt, hätte ich mich in all seinen Stunden nach unten verrechnet, in die geringere Summe. Immer hatte mein Ergebnis die korrekte Lösung um Etliches überboten. Es half nichts. Mein Notendurchschnitt im Abiturzeugnis wurde durch die Mathematik so verunstaltet, dass es für die Studienstiftung nicht reichte. Die verhassten Zahlen und ihre hinterhältigen Kombattanten, die ganze Bagage der entarteten Buchstaben, hielten mich bei de ärme Lück. Beim Honnefer Modell. Dem Nachweis der Bedürftigkeit.
     
    Rebmann steckte mir bei der Abiturfeier eine Karte zu. Ich wusste, er hielt nicht viel von den Romantikern. Und doch. »Novalis« stand da, in Rebmanns nachlässiger Handschrift:
    »Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen.
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit wieder gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.«
    Das »geheime Wort«? Novalis hatte gut reden.
     
    Die meisten waren mit ihren Eltern da. Bei mir zu Hause wusste nur Bertram Bescheid. Ich war allein und froh, von allen wegzukommen. Verstohlen schaute ich mich auf dem Schulhof um. Hier hatte Godehard einmal gestanden. Mein erster Bildband. Meine kleine Frau.
    Ich klemmte mein Reifezeugnis unter den Arm und ging schneller. Seit der Nacht auf der Lichtung war ich nicht mehr bei Buche gewesen. Wenigstens verabschieden wollte ich mich von ihm.
    Schon von weitem kam mir irgendetwas anders vor. Die Kisten. Was war mir den Kisten geschehen? Nur bei Regenwetter ließ Buche sie im Laden. Heute schien die Sonne, mildes Aprilwetter, Kistenwetter. Ich schaute auf die Uhr, Godehard-Uhr, aber Buche schloss den Laden nicht über Mittag, oder doch, vielleicht war das neu, und er schloss den Laden nun über Mittag; wird doch nicht krank sein, der Buche, dass er den Laden über Mittag schließt, die letzten Meter zum Buchladen legte ich fast im Laufschritt zurück.
    Das kleine schwarze Metallschild mit der gelben Eule, kaum größer als eine Hausnummer, winkte mir wie eh und je entgegen.
»Buch Bücher Buche«, das Spruchband war weg, und was darunter gelegen hatte, Neuerscheinungen, Antiquarisches, Gesamtausgaben, alles weg. Dafür lag da »Was Frauen schöner macht«, »Badefreuden mit Triumph«, »Weibliches Geheimnis«, so die Plakate zwischen Büstenhaltern, Nachthemden, Strumpfgürteln, Bikinis. Die staubige Dämmerung des Bücherraums mit den hohen, dunklen Holzregalen war weißem Schleiflack und rosa-goldenen Leisten unter gleißenden Glühbirnen gewichen. Ein Auto bremste, fuhr weiter, eine Krähe flatterte auf, ließ sich auf dem Eulenschild nieder. Sie sei nur die Verkäuferin, sagte das Mädchen im Laden auf meine Frage gelangweilt; einen Herrn Buche kenne sie nicht. Von Büchern hier wisse sie nichts.
    Zu spät. Vorbei.

    Obwohl noch früh im Jahr, war es heiß wie im Sommer der Lichtung. Hochwasser hatte den Rhein anschwellen lassen, ein träger Wasserdrache wälzte sich in die Kurve an der Rhenania.
    Nah bei der Großvaterweide stand ich und hielt einen Stein umklammert. Ein Buchstein, ein Wutstein? Er ließ sich nicht durchschauen. Mit einer trotzigen Bewegung warf ich den Kiesel von mir, gerade so weit, dass er im seichten Wasser aufschlug. Mein Platz in der Wirklichkeit war sicher. Morgen würde ich mit dem Bus am Holtschlösschen vorbei nach Großenfeld fahren, Endstation. Was war schon dabei am helllichten Tag, und weiter mit dem Zug.

Weitere Kostenlose Bücher