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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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»lässt dich der Kreuzkamp fragen, warum er dich nicht mehr in der Kirche sieht. Und zum Beichten bist du auch schon lange nicht mehr gekommen, sagt der.«
    Wie hätte ich auch. Was hätte ich denn sagen sollen? Im Beichtspiegel gab es dafür kein Wort. Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. Hatte ich gesündigt? Konnte ein Opfer sündigen? Ich wollte kein Opfer sein. Lieber in der Sünde leben, der Schuld, als in der Niederlage, der Erniedrigung, in der Demütigung. Dennoch: Wie damals in der Zeit mit Sigismund war ich nach Strauberg gefahren, in die kleine Kirche am Rhein, wo mich niemand kannte. Doch als ich an der Reihe war, die Knie schon gebeugt hinter dem lilasamtenen Vorhang, war mir aus dem Beichtstuhl die Verdammnis entgegengeschlagen - und ich war auf und davon gesprungen.
    Ich warf den Kopf in den Nacken. »Beichten?« Ich versuchte, meiner dünnen Stimme einen wegwerfenden Klang zu geben. »Was soll ich denn schon beichten? Passiert doch nix.«
    Bertram hielt sein Rad wieder lässig mit einer Hand in der Mitte des Lenkers und setzte die Mundharmonika an, und mir war, als ginge der Großvater neben mir her und führte das Lied die altersdünnen Lippen entlang. Der Bruder schien erleichtert, seine Mission beendet zu haben, fuhr die Tonleitern hinauf und hinunter, und dann legte er los: »It’s been a hard day’s night« kam es von Großvaters Mundharmonika, die so oft Maria zu lieben oder Meerstern, ich dich grüße herausgeblasen hatte
und jetzt »and I’ve been working like a dohohog«. Der Bruder schnappte nach den Tönen, hastete die Lippen über den Metallsteg, als könne er diesem handgroßen Metallstück weit mehr entlocken als ein paar Lieder. Ich blieb stehen. Bertram nahm die Harmonika vom Mund. Wie still es war. Nur der Wind in den Weiden, im Schilf, auf den Wellen ganz sacht. Bertram steckte die Mundharmonika zurück in die Hosentasche. Ich sah ihn ungeduldig an. Doch der Bruder hielt den Kopf gesenkt und machte keine Anstalten, aufzusteigen. Legte meine Hand auf die Lenkstange und die seine darüber.
    »Du musst keine Angst haben«, sagte er und schloss meine Hand um den kühlen Stahl, ehe ich sie wegziehen konnte. »Denk an den Opa. Weißt du noch, wie er uns hier aus den Buchsteinen vorgelesen hat?«
    Bertram blieb stehen, lehnte sein Rad an die Großvaterweide.
    »Hier«, er bückte sich, hob einen Stein auf und wischte ihn am Hosenbein blank. »Lapides librorum boni sunt. Buchsteine sind gut. Lapides quoque furoris sunt. Wutsteine auch. Et lapides ridentes. Und Lachsteine. Obwohl du ja gar nicht mehr so viel lachst wie früher. Eigentlich lachst du ja überhaupt nicht mehr. Fast so wie die Mama und der Papa. Aber das«, Bertram öffnete die Hand, »das hier ist noch was Besseres: hier.« Bertram ließ den Stein ein paarmal in den Handflächen hüpfen. »Vide! Lapidem optandi. Das hier ist ein Wunschstein.«
    Ich sah den Bruder aus den Augenwinkeln an. Buchstein, Wutstein, Lachstein, Wunschstein - das war doch was für kleine Kinder. Daran änderte auch Latein nichts.
    »Bei mir hat das schon oft geholfen«, sagte Bertram ernsthaft nickend, »du musst nur daran glauben.«
    Ich nahm dem Bruder den Stein aus der Hand. »Vielleicht sollte ich ihn lapis voluntatis, Willstein, taufen«.
    »Wunschstein, Willstein, sag, was du willst, was zählt, ist der Glaube. Fides, fidei, femininum. Lapis fidei. Steht doch schon in der Bibel: ›Surge, vade, quia fides tua te salvum fecit.‹«

    Ich seufzte: »›Steh auf und geh. Dein Glaube hat dich gesund gemacht.‹ Wenn’s so einfach wär.«
    Bertram hielt meine Hand wieder fest. Mit dem Stein in der einen, den Bruder an der anderen Hand ging ich näher ans Wasser. Dein Glaube hat dich gesund gemacht. Ein Schleppkahn, rostgefleckt und kohleschwer, tutete, Wellen schwappten, wir sprangen beiseite und ließen uns los. In einem großen Bogen musste die Fähre, die Piwipp, ausweichen, die wenigen Passagiere klammerten sich an die Reling.
    »Komm«, sagte ich und steckte den Stein in die Hosentasche, »nimm das Fahrrad mit, beeil dich. Wir fahren rüber.«
    »Rüber? Wo, rüber?«
    »Ja, mit der Piwipp. Rüber. Nun komm schon.«
    Ich tastete nach dem Stein und den Münzen, die ich vom Kauf meiner Monatskarte übrigbehalten hatte. Zwei Fünfzigpfennigstücke und eine Mark.
    Fischers Pitter, der Fährmann, schmunzelte: »Ihr seid doch de Kinder vom Rüpplis Maria, ihr seid ja wohl noch keine vierzehn, da zahlt ihr

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