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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Latein sprach oder Deutsch oder Kisuaheli? Nicht ich hatte Gott, Gott hatte mir den Rücken zugekehrt. O Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. So weit, so wahr. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Ein Wort? Welches Wort? Das Wort von der Lichtung. Das Wort in der Kapsel. Das verbotene Wort. Ich hatte mir den Mund verboten, und ich hatte Gott den Mund verboten. Mein Haus verboten. Ich war für Gott verboten und Gott für mich. Ich hatte mich mir und allen verboten.
    Die Neuerungen des Vaticanum II: für mich kein Thema für einen Schulaufsatz. Ich machte es mir leicht und speiste Rebmann mit seitenlangen Spitzfindigkeiten über »die gebildete Frau« ab.

    Es war so weit. Die Reifeprüfungen standen bevor.
    Rebmann ließ uns wählen zwischen den Themen:
    »Skizzieren Sie die Situation, in der Iphigenie das Parzenlied spricht, deuten Sie es und zeigen Sie, dass es den eigentlichen Mittelpunkt des Goethe’schen Schauspiels darstellt.«

    Oder:
    »Nehmen Sie Stellung zu folgendem Satz: ›Wenn Macht den Menschen zum Hochmut führt, erinnert ihn die Dichtung an seine Grenzen.‹ John F. Kennedy vor Studenten des Amherst College in Massachusetts.«
    Oder:
    »Ihr amerikanischer Briefpartner bittet Sie um Stellungnahme zu einer Äußerung von Erich Fromm, der in der amerikanischen Massenillustrierten LOOK Folgendes geschrieben hat: ›Die deutsche Jugend ist völlig bildungslos, amoralisch und ohne Glauben. Ungeführt und bar jeglicher Motive ist sie den Verlockungen der Hysterie und der Absurdität ausgesetzt. Sie empfindet keinerlei Loyalität, weder gegenüber sich selbst noch gegenüber der Gesellschaft. Sie ist wahrhaft nihilistisch. Wir werden einst von ihr hören, und es werden keine guten Nachrichten sein.‹ Was würden Sie ihm antworten?«
    Wer auch immer dieser Erich Fromm war: Diese Frechheiten würde ich ihm heimzahlen. Sah ich einmal von meinen empörten Ergüssen auf, fand ich alle Köpfe über die mit dem Schulstempel markierten Blätter gebeugt; keiner, der heute in den ziehenden Wolken vorm Fenster Zuflucht, Zeichen und Geistesblitze suchte, und ich war nicht die Einzige, die sich bei Rebmann frisches Papier holte. Sogar Bögen nachstempeln musste er. Die ganze Klasse, erzählte uns Rebmann später, habe dieses Thema gewählt. Wir waren schon von der Schule abgegangen, als im Steinbock , der Schülerzeitung, die kräftigsten Passagen einzelner Aufsätze abgedruckt wurden. Sogar der Riesdorfer Anzeiger brachte unter der Überschrift: Unsere Jugend - Unsere Stärke einen Artikel über den ersten Abiturjahrgang des Aufbaugymnasiums mit Zitaten.
    Zwei Tage nach Rebmann diktierte Sellmer in seiner kurzen, kargen Art den Text für die Übersetzung aus dem Lateinischen; beiläufiger noch als gewöhnlich, so, dass man mehr noch als sonst die Ohren spitzen musste, aber mit gewohnt überdeutlicher Artikulation nahezu jeden Buchstabens. Eine absurde
Geschichte aus dem 15. Jahrhundert, die manchen aufs Glatteis führte. Es ging um Schiffe auf dem Rhein, und es brannte. Ich vertraute der Grammatik, ließ den Rhein und nicht die Schiffe in Flammen stehen. Und lag richtig.
    Mit Deutsch und Latein war die erste Prüfungswoche zu Ende. Sonntags im Holzstall hielt ich den Kopf über Formelsammlungen, als könnte ich sie inhalieren. Montags lag die gelbgraue, fettig glänzende DIN-A4-Matrize, blaulila gezeichnet, auf unseren Plätzen. Lag das Unheil vor mir.
    »Jedes Spiel ein Treffer!«, war die hämische Überschrift. Und so ging es weiter. »Auf einem Schulfest wird ein Glücksrad aufgestellt, wobei die zu gewinnenden Preise mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten aus der Darstellung zu ersehen sind. Stellen Sie die Wahrscheinlichkeitstabelle und ein Histogramm für die Wahrscheinlichkeitsfunktion beim einmaligen Drehen des Glücksrads dar!«
    Zwei weitere Zettel boten Alternativen, die ich ebenso wenig begriff. Um Rotgrünblindheit ging es, acht Prozent aller europäischen Männer litten angeblich daran, und man wollte wissen, wie viele Frauen rotgrünblind sind, wenn die Krankheit x-chromosomal vererbt wird. Woher sollte ich das wissen? Woher sollte ich wissen, wie viele der achtunddreißig Schüler und drei Schülerinnen der Abiturklassen vom Ambach und Humboldt rotgrünblind sein könnten? Und vererben könnten wir das auch noch. So ähnlich gab’s das Gleiche noch mal mit taubstumm.
    Niederschmetternd war das! Schlimmer, als alles, was Meyer uns je zuvor an Geschichten

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