Aufbruch - Roman
Köln-Hauptbahnhof. Nichts Besonderes würde das von nun an sein, tagtäglich würde ich, stud. phil. Hilla Palm, in den Zug steigen, die Bahn: Universität.
Der Wind blies warm aus dem Westen, vom anderen Ufer herüber, bauschte die Weiden auf, schwang sie wie Reifröcke adliger Damen. Sie hätten in meinen Schönen Tagen gut zu den Palmen gepasst.
Ich schlüpfte aus der Sandale, stocherte barfuß zwischen den Steinen, krallte ein längliches Oval mit den Zehen und ließ es mit einem Hüpfer in meine Hand fallen, das hatte ich mir bei meinen langen Spaziergängen beigebracht.
Monika hatte das Kunststück ein paarmal kichernd bewundert, doch seit der Lichtung war sie nicht mehr bei mir gewesen. Auf dem Cäcilienfest hatte sie sich verliebt, Psychologiestudent; sie würde ihm nach Freiburg folgen, sich verloben. Verloben würden sich auch Erika und Helga, beide hatten ihre Lehren abgeschlossen, waren Einzelhandelskaufmannsgehilfin und Friseurin, das alles erzählte mir die Mutter in einem Tonfall, als berichte sie einer Niete vom großen Los. Helga ging mit Emil, er war Dreher. Peter Benders Hochzeit trieb ihr die Tränen in die Augen.
Ich wog den Stein in der Hand. Kein Gesicht stieg auf, kein gutes, kein böses, kein geliebtes, kein verhasstes. Was mochte mich morgen in der Albertus-Magnus-Universität in Köln erwarten? Albertus Magnus, ich hatte es nachgeschlagen, Dominikaner, Aristoteles-Kenner, vor allem aber bewandert in der Botanik, der Physik und Mechanik, ein Doctor universalis, auch der Alchemie nicht abhold, mitunter sogar der Zauberei verdächtigt. Mohren fiel mir ein. Die verbrannten Bücher.
Eine Mundharmonika ließ mich zusammenfahren. »Alles neu macht der Mai.« Der Bruder hatte sich unbemerkt herangemacht. Er war stämmig geworden seit dem letzten Jahr und einen Kopf größer als ich.
»Amo, amas, amat! Suchst du noch immer den lapis philosophorum? Den Stein der Weisen?«
»Und du? Habt ihr denn heute kein Training? Ich meine, ich hätt den Manni auf dem Platz gesehen, der stand schon im Tor, als ich vorbeikam.«
Eine Weile hatte Bertram Korbball gespielt, Fußball, das sei doch nichts für einen Obersekundaner vom Möhlerather Schlossgymnasium, hatte sein Sportlehrer gemeint. Jetzt machte er wieder den Libero in der Dondorfer Jugendmannschaft.
»Doch«, druckste Bertram. Und dann: »Has de denn gar keine Angst?«
»Angst? Wovor denn? Ich geh doch schon immer allein hierher.« Hatte er wieder einen Stein für mich?
Bertram wandte sich ab.
»Ich«, er zögerte, »ich wollt nur mal sehen, wie es dir geht. Wegen morgen. Da gehst du doch ganz allein hin. Wirklich keine Angst?«
»Na, hör mal«, versuchte ich noch einmal, einer Antwort auszuweichen. »Wovor denn? Vor dem Käppes?« Käppes war der Schaffner, der seinen Unmut über »dat Hondeläwe«, damit meinte er seine missratene Ehe, gern an den Fahrschülern ausließ.
»Ach, Hilla.« Der Bruder schwieg. Und dann platzte er heraus: »Has de denn gar keine Freundin mehr? Die Monika ist schon lang nicht mehr gekommen. Und du warst auch nicht mehr bei der zu Haus.«
»Ja, weißt du, ja, also, die Monika ist ja auch schon bald verlobt.«
Der Bruder stutzte: »Aber das ist doch kein Grund …«
»Ja, und dann haben wir uns ja auch immer in der Schule gesehen.«
»Das ist doch wirklich was anderes«, wandte Bertram ungeduldig ein. »Und Jungen siehst du auch keine mehr. Seit dem Godehard. Der von dem Schulzahnarzt zählt ja wohl nicht.« Der Bruder stieß das Vorderrad ein paarmal zwischen den Sand, dass die Körner stoben. »Hat der dir denn überhaupt noch mal geschrieben, seit der weg ist?«
»Nö«, sagte ich kurz angebunden.
»Und lesen tust du auch immer nur dasselbe. Immer nur dieses Blumenbuch. Steine. Und die alten Römer.«
»Bertram!« Ich musste ein nervöses Lachen zurückhalten. »Abends bin ich zu müde für etwas anderes.«
»Warst du sonst doch auch nicht«, gab der Bruder unsicher zurück. »Frag ich mich nur, warum du dann Germanistik studierst.
Da muss de doch mindestens wieder so viel lesen wie f rüher.«
»Was denn sonst«, gab ich unwirsch zurück. »Da hab ich die besten Noten. Und Geschichte und Latein.« Dass ich mir schon das Richtige aussuchen würde, nicht gerade Gedichte und Dramen um Liebe und Tod, fügte ich im Kopf hinzu. Lesen ohne zu fühlen, einfach Wörter fressen, Wissen anhäufen, hatte ich seit der Lichtung längst begonnen.
»Und dann«, wieder rammte Bertram den Vorderreifen in den Sand,
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