Aufbruch - Roman
Goldbandglasscherbe, Säulenbruchstücke und Kapitelle.
Das Stampfen der Rammen und Planierraupen verdarb mir die Lust, gleich einen Blick in die Zeitung zu werfen. Und so tat ich, was getan werden musste, sobald man Kölner Boden betrat: eine Kerze anzünden im Dom. Die Zeitung unterm Arm, Aktentasche in der Hand nahm ich die Stufen, die noch nach frischem Holz und Terpentin rochen. In den steinernen Zierrat des Doms hatten Schwalben ihre Nester geklebt, von der Reibekuchenbude roch es nach zwiebeligem Kartoffelteig und heißem Öl. Doch vom Rhein wehte frischer Wind um die hohen Mauern, fuhr mir ins Haar wie eine übermütige Hand.
Zum ersten Mal stieß ich selbst das Portal auf, folgte niemandem, und niemand folgte mir, doch im Duft von Kerzen und Weihrauch meinte ich die Gerüche von Vater und Mutter zu wittern, dem Bruder, der Tante. Hier hatte ich für Marias Erlösung vom Brustkrebs gefleht, um eine Vier in Mathematik, um Sigismunds Treue. Nichts war erhört worden. Beten war wie Lottospielen: Wer nicht spielt, kann nicht gewinnen, wer
nicht betet, kann nicht erhört werden. Aber: ein Glücksspiel. Ausgang ungewiss. Bittet, so wird euch gegeben. Gegeben, ja. Nur was? Gott war einer von denen, die wegschauten, wenn es darauf ankam. Ich machte aus meiner Verachtung keinen Hehl. Vater unser, da konnte ich doch nur lachen, und auch aus diesem bösen Gelächter machte ich kein Geheimnis. Lachte Gott ins gottväterliche Gesicht und schleuderte ihm entgegen, dass ich seinen Namen heilige, sein Reich kommen und sein Wille geschehen möge. Na klar, würde sein Wille geschehen, wozu darum beten. Aber ich dachte nicht daran, meinen Schuldigern zu vergeben und verbat mir von diesem Herrn da oben, mir meine Schuld zu vergeben. Schuld! Ich wollte kein Opfer sein. Jesus hatte gewollt, was ihm geschah. Da musste er auch die Konsequenzen tragen. Und sowieso: alles in der Gewissheit der Auferstehung - nach drei Tagen. Mir war die Lichtung zugefügt worden. Hier lag der ganze Unterschied. Gott, der Allmächtige?
Unschlüssig, zaudernd schlug jemand auf der Orgel ein paar Töne an.
Die Japaner ließen ihre Kameras sinken und schoben sich in die Kirchenbänke, Frauen stellten die Einkaufstaschen ab, hoben ihre Köpfe und blinzelten über den Altar hinweg dem ewigen Licht und den ersten Tönen entgegen. Ich umklammerte meine Zeitung und floh. Keine Kerze.
Eine Straßenbahn ließ ich vorbeifahren, dann noch eine; nur mit Mühe hätte ich mich hineinzwängen können. Die dritte Bahn musste ich nehmen.
Ruhig atmen!, befahl ich mir, schob Zeitung und Aktentasche zwischen mich und meine Nächsten, fühlte mich von Hintern und Bäuchen bedrängt; versuchte, aus dem Fenster zu schauen. »Täglich einen Underberg und du fühlst dich wohl«, riet ein Schild über den Köpfen. »Man sollte viel mehr Noris trinken« und »Frauengold schafft Wohlbehagen, wohlgemerkt - an allen Tagen« versperrten den Blick. Unverständlich nuschelnd rief der Schaffner die Haltestellen aus; als bis auf ein paar Frauen alle ausstiegen, tat ich das auch.
Die Aula war voll wie die Straßenbahn. Ich rollte Hannis Mantel zusammen. Da stand ich nun in meiner neuen Hose, der frischgestärkten Bluse unter der Cordweste und wusste nicht weiter. Verlegen ließ ich den Kölner Stadt-Anzeiger in der Aktentasche verschwinden; hier wirkte er gewöhnlich. Stopfte den Mantel dazu. Hinter mir drängelte es, murrte, schob sich an mir vorbei oder setzte sich einfach auf die Stufen der Treppe, die hinauf ins Halbrund des Auditoriums führte. Ich tat, was die anderen taten. Saß, die Aktentasche auf den angezogenen Knien, schräg vorm Pult, sah, wie jeder einen Block, ein Ringheft bereithielt; ich wollte meines herausholen, hatte aber aus Versehen die Schönen Tage eingesteckt. Drehte das Heft herum, würde von hinten nach vorne mitschreiben. Ein kraushaariges Mädchen hockte sich neben mich, sagte »Tach« und bot mir Pfefferminzpastillen an, von denen es sich eine Handvoll in den Mund warf.
Ein Gong. Das Gemurmel schwoll an, ebbte ab, zwei junge Männer, einer mit Aktendeckel unterm Arm, steuerten auf das Pult zu, ihnen folgte ein älterer Herr, dann noch drei jüngere Männer. Der Ältere blieb hinter dem Pult stehen, die fünf anderen setzten sich in die erste Reihe, direkt vors Pult, wo diese Plätze frei geblieben waren. Alle fünf trugen die gleiche Frisur; verschiedene Brauntöne platt auf den Kopf geklebt, glatt wie lackiert.
Eine Stimmung wie vor einem
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