Aufbruch - Roman
ich besser, wenn ich ihn nicht ansehe, diesen Mund, diese Quelle der Silbenflut, Bilsenhut, Filsenbrut, und fixierte einen Punkt über der Tür, durch die der Unbegreifliche hereingekommen war. Da, wo der dunkelbraune Querbalken mit dem Längsbalken zusammenstieß, machte ich die Augen fest und lächelte die Fuge zuversichtlich an. Es half nichts. Gehör- und Gehirnwindungen wollten sich nicht verbinden. Mein Lächeln erstarb, und das Blut rauschte in meinen Ohren, überrauschte die Wörter, die Gestalt hinter dem Pult verschwamm vor meinen Augen, eine langgezogene milchige Silhouette, gespenstisch, Sensenmann, schoss es mir durch den Kopf, und wie ich sie hatte rollen lassen, die Köpfe zwischen Dondorf und Großenfeld. Wieder stiegen Tränen auf. Ich hielt sie zurück.
Aber ich gab nicht auf. Blieb sitzen. Versuchte zuzuhören mit geschlossenen Augen, was Schwindel, beinah Panik auslöste, Flucht. Ich spürte, wie sich Feuchtigkeit zwischen den Schulterblättern sammelte, ein feines Rinnsal den Rücken hinunter wie vor Jahren, als ich mir auf dem Speicher mit Drostes Ballade vom Knaben im Moor das schöne Sprechen beigebracht hatte . Doch im Sonnenstaub dieses Sommertages war ich selbst es gewesen, die das Wort hatte, hier war ich zum Ausharren gezwungen, musste die Wörter über mich ergehen lassen.
Erlösung brachte mir schließlich der Kartenständer schräg hinter dem Pult, genauer, die Karte, die dort noch von einer der früheren Vorlesungen hing. Käfer waren dort in eine optisch ansprechende, sicher auch vernünftige Ordnung gebracht. Das größte Exemplar, sinnreich »Goliath« genannt, wie ich unschwer entziffern konnte, machte die Mitte aus, schräg links hockte der langarmige Pinselkäfer, rechts ein grünes Ding mit lateinischen Silben, die ich nicht zusammenkriegte; Gemeiner Totengräber, Schwarzer Kolbenwasserkäfer, Dreihorn, Langarmbock, Maiwurm und Großer Eichenbock prägte ich mir ein, bis der Gong den Mann am Pult zum Innehalten brachte. Nicht sogleich, o nein. »Der pathetische Held ist unbedingt«, drang es an mein
Ohr. Ein ganzer Satz! Ich schnappte danach wie ein Spatz im Winter nach Krusten. »In alldem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende Kraft«, schmetterte der Professor und beteuerte: »In der Versöhnung beruhigen sich der Dichter und sein Publikum«, notierte ich mit zaghafter Befriedigung in meine Schönen Tage .
»Halis apopauesthe nyn. Lasset nun ab, es ist genug. Die Leere des Pathos ist aufgefüllt.« Der Professor und seine Zuhörer waren am Ziel. Ite missa est. Ein letztes Schleudern des Unterschenkels, die fünf in der ersten Reihe sprangen auf, formierten sich zur Eskorte, nahmen den Professor in die Mitte. Nachhallendes Trommeln und Klopfen begleitete ihren Auszug, ich traktierte meine Schönen Tage , meine Nachbarin klatschte ihr Ringheft, als paniere sie ein Kotelett. Erst als nur noch die Rücken der Adlati zu sehen waren, erhob sich Gemurmel, andächtig wie in der Kirche, wenn der Pastor in die Sakristei entwichen war.
Behende schlüpfte meine Nachbarin davon, ich rappelte mich auf, wollte nur noch weg, raus aus diesem Saal, rannte die Gänge entlang, harter, glatter Steinboden unter den Sohlen, bis ich einen Luftzug spürte, der Hinterausgang, die Wiesen. Lehnte mich an einen Baum, seinen schmalen Stamm, ließ mich hinabgleiten und schloss die Augen. Unter den Lidern krabbelten die Käfer von der Karte hinterm Pult, in den Ohren echote »Hendiadyoin« und »Onomatopoeie« bis endlich Krähengeschrei »Myrmidonen«, »Polydora«, »Anakoluth« und »Priamos« aus meinem Kopf verscheuchte. In der Kastanie über mir hackten zwei Krähen nach einer Elster, die das Pärchen in immer neuen Sturzflügen aus seinem Nest zu verjagen suchte. Die Wiese war bunt von Menschen, die allein oder in Gruppen lagerten. Vor mir zwei Verliebte, der Junge kitzelte das Mädchen, scheinbar in ein Buch vertieft, mit einem Grashalm im Ohr und im Nacken, bis es mit gespieltem Widerwillen das Buch zuklappte, sich von dem Jungen hochziehen ließ und Hand in Hand mit ihm davonschlenderte.
Ich sog den Duft der Wiese tief in die Lungen, von weitem die Essensgerüche der Mensa, hielt den Atem an, schluckte und schluckte, wozu jetzt noch Schluckauf? Was hatte ich erwartet? Dass ich hier in den Armen der alma mater, der nährenden, segenspendenden Mutter, die Absolution von der Lichtung erfahren würde, dass mir Schuld und Scham genommen, dass ich mich meinen geliebten Dichtern wieder
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