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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Schönen und Wahren künden. Mit dem Schönsten, Wahrsten und Besten der Welt würde ich mich auseinandersetzen, dafür sorgen, dass es blieb, wie wir es von den Ahnen empfangen hatten - und meinen Teil dazutun.

    Meine Nachbarin war dem Vorspiel am Pult mit derselben Aufmerksamkeit gefolgt wie ich. Reglos saßen wir, sparten unsere Kräfte für das, was da kommen sollte, stauten unsere Energie dem gelehrten Wort entgegen.
    Hüsteln. Scharren. Es kam von einem der fünf Begleiter des Professors aus der ersten Reihe. Keiner, der nicht zusammenschrak. Das Mädchen neben mir nahm Haltung an, rückte sich, so gut das in dieser Kauerstellung ging, gerade. Sie hielt ihr Ringheft auf den Knien wie die Frauen in der Kirche das Gebetbuch; schlug es auf und fuhr mit der Hand über die leere Seite, als gebe sie ihr den letzten Schliff für ihre wahre Bestimmung.
    »Polla ta deina kouden an / thropou deinoteron pelei«, donnerte es vom Pult. Ohne Einführung, Übung, Betrachtung, Problem legte der Professor los.
    Lateinisch war das nicht. Hebräisch vielleicht, wie damals bei Rosenbaum. Aha, Sophokles, ließ der Professor beiläufig verlauten, Griechisch also. Ich beeilte mich, den Namen zu notieren, geboren, gestorben, doch längst schon war der Professor weiter, die Stimme allem voran, was an meine Ohren gelangte, vom Verstand ganz zu schweigen, Lichtjahre lagen zwischen den Wörterschällen vom Professorenpult und meinen Ohren, in wirren Unfug verwandelten sich die Wörter auf diesem Weg, verdrehten sich wie bunte Papierschlangen in der Luft oder lösten sich in ihre Bestandteile auf, Buchstaben wie Konfettiwirbel. Dabei war doch jedes Wort, das den Weg in Gehirn und Sprachlappen schaffte, durchaus normal und jedem Verstehen zugetan. Die »Bekundung« zum Beispiel ist doch klar, was das heißt, die »Substanz«, na sicher, »machtvoll und dichterisch die Substanz«, warum nicht, »die Bekundung einer machtvollen dichterischen Substanz«, sagte der Professor auf jeden Fall, ich notierte es in Schöne Tage , auf der letzten Seite, verkehrt herum. Aber wohin mit der Substanz, längst schon weiter war der Professor, »die äußere Gleichheit im Stoff ist keinesfalls vonnöten«, sagte der Professor, »Brautkuss«, drang an mein Ohr, aber nicht weiter, »Himmelsbezug immanent ist«, »sicher und sachgemäß«, »überpersönliche Stilkräfte«.

    Ich schielte zur Nachbarin. Selbstvergessen ruhte der Kugelschreiber in ihrer Hand auf dem weißen Ringbuchblatt. Den Mund gespitzt, die Wangen eingezogen, als genösse sie Süßes, so, wie die Großmutter süßes Latein genoss im Kapellchen im Angesicht Gottes. In ihren Zügen glückseliges Einverständnis mit dem Unverständnis. Nicht so ich. In meinen Schläfen begann ein Klopfen, wurde stärker und heftiger, die Wörter forderten Einlass. »Rondel der Zeilen«, »eines Verses Kreisbewegung«, »Verflechtungen zierlich ausgestattet«, »Prämisse«, »Konklusion«, »gibt die Biographie die Auskunft«, »rhythmische Zäsuren«: Mühelos konnte ich jede Silbe vernehmen, die Wörter drangen an meine Ohren wie an die der übrigen Hörer auch, einzelne Wörter schlugen sich in mein Verstehen durch, gierig notierte ich sie in mein Heft, aber einen Satz, Sätze gar, fing ich nicht; sie wollten sich einfach nicht einstellen, stellen lassen.
    Wieder sah ich zur Nachbarin. Die hielt nun eine Hand vor den Mund und schien den Redner mit allen Sinnen, vor allem aber mit weit aufgerissenen Augen in sich hineinsaugen zu wollen, ihm zu folgen auf Gedeih und Verderb bei seinem Sturz durch den Silbenfluss, der sich über uns ergoss, überschwemmte, überspülte. Dabei ging er von einer gleichförmigen Teilnahmslosigkeit, mit der er die Sätze aus seinem Mund entließ, unvermittelt zu abgehackten Satzteilen über, willkürlichen Unterbrechungen und Lautstärken, die Pausen zwischen den Wortblöcken mit einem Aufstampfen des mir zugewandten Unterschenkels bekräftigend.
    Selbst der Professor schien seinen Sätzen nicht zu trauen. Losgelöst von jeder Aussage, wie mir schien, begleitete er sein Sprechen mal mit einem Nicken, mal mit einem Schütteln des Kopfes, wobei seine Wangen jedesmal in Bewegung gerieten, mitunter gar, wenn er vom Bejahen abrupt ins Verneinen überging, ins Schleudern, ins Schlackern, das ihn durchschüttelte bis in die Fußspitzen; warf er dazu seinen Unterschenkel hoch, blitzte zwischen Sockenrand und Hosensaum blankes, blasses Wadenfleisch auf.

    Vielleicht, dachte ich, verstehe

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