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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Vater. Die Mutter im Kittel, die Großmutter ohne Schürze, ließen die Arme hängen und sahen geradeaus, als würden sie photographiert. Ich drehte mich noch einmal um, der Bruder hob den Arm, ließ ihn mitten in der Bewegung sinken. Der Vater wandte sich ab, stieg aufs Fahrrad und fuhr an mir vorbei zur Fabrik. Wie klein er aussah, schmächtig, verbraucht; abgetragen wie seine Anzugjacke über dem Blaumann. War das der Mann, vor dem ich einmal gezittert hatte? Einen Augenblick lang glaubte ich, die Straßenbahn hinter mir in die Kurve kreischen zu hören, aber die fuhr ja nicht mehr. War durch Busse ersetzt worden, der letzte Wagen nach Bremerhaven verkauft, ans Meer, und mir war, als hätte sich mit der Bahn auch die Lichtung ein Stück weiter aus meinem Leben entfernt.
    Ich rannte los, mein erster Tag an der Uni, der nächste Zug wäre zu spät. Vorbei an Piepers Eck rannte ich, wo Veronika den Platz vor der alten Linde fegte und mir »Alles Jute« nachrief, vorbei am Gänsemännchenbrunnen, der zwischen frischgepflanzten Begonien im Buchsbaumrondell plätscherte. Schüler fuhren erst später, nur ein paar Frauen und Männer, wohl auf dem Weg zur Großenfelder Tubenfabrik, stiegen mit verschlafenen Gesichtern neben mir ein und zeigten gleichgültig ihre Dauerkarten, die der Fahrer ebenso teilnahmslos übersah. Aus den müden Augen einer Frau, mager, graue Fäden im kurzgeschnittenen Haar, schien mich Maria anzusehen.
     
    Im Zug fand ich einen Platz am Fenster, und mir war, als flögen alle, die mir am Törchen nachgewunken hatten, von mir weg, mit jeder Umdrehung der Räder, jedem Rumpeln der Achsen ein Stück weiter, davon flog mein Ich aus dem Holzstall hinterm Hühnerstall, mein Ich von der Lichtung, alle flogen von mir davon, hinein in die Felder von Ruppersteg, die Wiesen von Düpprig, die Schrebergärten, der Stadtpark von Riesdorf, dahinter das Aufbaugymnasium. Alles schien klarer als je zuvor, die Rinde der mageren Bäume in stärkeres Licht getaucht, selbst
das Sonnenlicht kräftiger als gewöhnlich. Auf den Feldern stand noch das Wasser, Krähen pickten in der Saat. Alles schien mir ein Glück: wie das dunkle Wasser die Felder versilberte und die Wolken sich darin spiegelten, Vögel, die sich in den Wasserwolken badeten, und dass ich jetzt, genau im richtigen Moment mit meinen Augen vorbeifuhr.
    Der Morgen war noch kühl, und ich wickelte mich enger in meinen Popelinmantel, von Cousine Hanni, die, kaum dass sie ihn gekauft hatte, schwanger geworden war. Der Mantel wie neu. Zu groß, doch das war mir gerade recht.
    Erst in Langenhusen riss ein älterer Mann die Abteiltür auf, keuchte einen Gruß, hängte japsend seinen Mantel an den Haken, klappte rechts und links die Armlehnen der Sitze hoch, ließ sein ganzes Gewicht mir gegenüber auf nahezu alle drei Polster krachen und knatterte eine Zeitung auseinander. Zuerst merkte ich nichts, meine schlabbrigen Hosen neu und noch steif von Appretur. Doch dann ließ er seine Beine immer weiter auseinanderfallen, bis bei jedem Ruckeln des Waggons sein Knie das meine berührte. Ich drückte mich in meine Fensterecke, das Knie schien zu folgen. Ich sprang auf, stieß dem Kerl meine Aktentasche vor die Zeitung und war draußen.
    Im Abteil daneben döste ein Ehepaar in mittleren Jahren. Behutsam schob ich mich durch die Tür. Die Frau lächelte mich schlaftrunken an, ohne den Kopf von der Schulter des Mannes zu lösen. Ich machte mich in meiner Ecke klein.
    Der Zug fuhr über die Deutzer Brücke, Kaiser Wilhelm zu Pferde, auf dem Helm eine Taube; ich grüßte den Dom, die Schiffe, Ausflugsdampfer und Lastkähne, legte die Hand auf mein aufgeregtes Herz und schwor mir, allezeit »Würde und Ansehen der akademischen Gemeinschaft innerhalb und außerhalb der Hochschule zu wahren«, so, wie es das Faltblatt zur Immatrikulation von mir verlangte.
    Meine Aktentasche war heute nicht schwer. Die Mutter hatte mir Brote eingepackt, als ginge ich zur Schule; dabei konnte ich mir beim Studentenwerk Karten für den Mensa-Freitisch
abholen. Mit den Broten trug ich ein Ringheft und das Vorlesungsverzeichnis. Auf blassgelbem Papier das orangefarbene Siegel: die Heiligen Drei Könige, einer, kniend, reichte dem Jesuskind auf dem Schoß der Mutter Gold, Weihrauch und Myrrhe.
    Ich hatte mich in dieses Buch vertieft wie vor Jahren in den Schott. Es war nicht wichtig, was ich las, oder ob ich, was ich las, begriff; der Klang der Verheißung war es, der mich beglückte wie damals die

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